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Armin Risi
Philosoph • Autor • Referent
Radikal umdenken – neue Wege und Weltbilder

Hölderlin:
Allgemeine Einführung und Erklärung

Ein Artikel von Armin Risi (1998)

„Götter wandelten einst bei Menschen …“
… und werden wiederkehren!

Diese erstaunliche Weltsicht vertrat der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin (1770 – 1843). Vor 155 Jahren starb er, einsam, unverstanden und seit Jahrzehnten für verrückt erklärt. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sein Werk wiederentdeckt.

Heute gilt Hölderlin als einer der größten und genialsten Dichter der deutschen Literatur. Doch seine visionären Botschaften werden immer noch verkannt, obwohl sie aktueller sind als je zuvor, schrieb er sie doch für uns, die „Enkel, … das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte“.
Während Jahrhunderten wurde im Abendland der Horizont der Menschen mit Gewalt beschränkt gehalten. Zehntausende von Männern und Frauen, die während des „dunklen Mittelalters“ von Reinkarnation, Astralwelten und außerirdischen Wesen sprachen, sind von der kirchlichen Inquisition ermordet worden.

Diese Überzeugungen, die vor weniger als 300 Jahren noch lebensgefährlich waren, sind heute selbstverständliche Inhalte des „Neuen Bewußtseins“, des Bewußtseins des Neuen Zeitalters.

Die Perspektive eines neuen Bewußtseins und eines neuen Zeitalters ist jedoch nichts Neues, denn es hat schon immer Vorkämpfer gegeben, die sich für eine Überwindung des materialistischen Weltbildes einsetzten. Einer von ihnen war Friedrich Hölderlin.
Seiner Zeit weit voraus?

Wer war dieser geheimnisvolle Dichter Hölderlin? Die äußeren Stationen seines Lebens sind heute weitgehend geklärt: Er wurde am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar als Sohn eines Klosterhofmeisters geboren. Mit zwei Jahren verlor er seinen Vater, mit neun Jahren seinen Stiefvater. Seine Mutter, ein überzeugtes Mitglied der evangelischen Kirche, drängte darauf, daß er Pastor werde, doch Friedrich entzog sich dieser „vorgetretenen Bahn“, wie er es nannte, und schlug sich mit verschiedenen Anstellungen als Hauslehrer durch, in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich (Bordeaux).

Immer wieder zitiert wird seine tiefe Liebesbeziehung zu Susette Gontard, der jungen Gemahlin eines Bankiers in Frankfurt am Main, bei dem er für drei Jahre als Hauslehrer angestellt war. Susette Gontard, die als „Diotima“ in Hölderlins Werk einging, starb 1802, 33-jährig, drei Jahre nach der erzwungenen Trennung von Friedrich Hölderlin.

Ab 1804 lebte der entwurzelte Hölderlin in Bad Homburg als Hofbibliothekar beim freimaurerischen Landgrafen von Hessen-Homburg. Im September 1806 kam es zu einer Art Verhaftung mit Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik. Nach acht Monaten isolierter und experimenteller Behandlung wurde er offiziell als unheilbar bezeichnet und entlassen. Hölderlin, nunmehr eine geknickte und oft geistesabwesende Person, fand durch eine glückliche Fügung Zuflucht im Haus eines gütigen Schreinermeisters in Tübingen, wo er bis zu seinem Tod in Zurückgezogenheit lebte, 36 Jahre lang. Während seines Lebens und fast hundert Jahre nach seinem Tod blieb sein Werk weitgehend unbekannt.

Mit der Entdeckung Hölderlins anfangs des 20. Jahrhunderts hat eine Flut von Hölderlin-Rezensionen und Interpretationen eingesetzt, die auch heute noch zunimmt. Meist wird Hölderlins Werk bloß germanistisch und akademisch abgehandelt, was jedoch Hölderlins eigentlichen Intentionen nicht gerecht wird, denn er hatte ein konkretes, revolutionäres Anliegen: die Welt und sich selbst vorzubereiten auf ein neues Zeitalter, eine erneute Göttergegenwart.

Vergangenheit als Spiegel der Zukunft

Friedrich Hölderlin blickte oft in die Vergangenheit, vor allem nach Griechenland; aber nicht wie ein Nostalgiker oder kritikloser Schwärmer, als der er manchmal hingestellt wird, sondern mit einer tiefen Einsicht: Der Blick den Fluß der Zeit hinauf führt zu Quellen, in deren Spiegel man die Zukunft erkennt. Denn gemäß der Weltsicht der alten Hochkulturen und auch gemäß Hölderlins Weltsicht verläuft die Zeit nicht linear, sondern zyklisch – wie die Bahn der Planeten, wie der Wechsel der Jahreszeiten:
Du aber wandelst ruhig die sichre Bahn
O Mutter Erd, im Lichte. Dein Frühling blüht,
Melodischwechselnd gehn dir hin die
Wachsenden Zeiten …
#fn:1
Nur schon dieses eine Beispiel – die Auffassung von der zyklischen Anlage der Zeit – macht klar, daß Hölderlin nicht wirklich verstanden werden kann, wenn man nicht mit seiner mythischen Weltsicht vertraut ist.

Hölderlins mythische Weltsicht
Jetzt aber tagts! Ich harrt’ und sah es kommen,
Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.
#fn:2
Hölderlins Weltsicht ist mythisch. Mythisch ist Gegenteil (nicht Gegensatz!) von logisch. Diese beiden Wörter gehen zurück auf die griechischen Begriffe mýthos bzw. lógos, zwei grundlegende Begriffe der Erkenntnisphilosophie.

Mythisch und logisch werden heute oft mißverstanden. Wenn etwas als „mythisch“ bezeichnet wird, soll das bedeuten: sagenhaft, der Phantasie entsprungen, nicht der Wirklichkeit entsprechend. (Eine „mythische“ Gestalt z. B. ist eine Gestalt, die es historisch nie gegeben hat.)

Demgegenüber bedeutet „logisch“ heute: offensichtliche, bewiesene Tatsache, glaubwürdig, der Wirklichkeit entsprechend. („Ist doch logisch! – Und deshalb glaub’ ich’s.“ Aber auch das Logische muß man glauben.)

Mýthos bedeutet ursprünglich jedoch etwas ganz anderes. Mýthos weist auf die geistige, immaterielle Wirklichkeit hin, die eigentliche Wirklichkeit, von der die Menschen gewöhnlich nur die verdichtete Widerspiegelung im dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Die immaterielle Dimension kann sich jedoch im dreidimensionalen Raum manifestieren und so für den Menschen erkennbar werden. Dieses Erkennbarwerden des Göttlichen nannten die Griechen mýthos, was im Deutschen mit Begriffen wie „Offenbarung“, „göttliche Gegenwart“ oder „heiliges Zeichen“ umschrieben werden könnte.

Demgegenüber bezieht sich lógos auf die Erkenntnis, die der Mensch selbst durch eigenes Forschen und Nachdenken erlangt. Weil die Wahrnehmung und Intelligenz des Menschen jedoch begrenzt ist, bleibt auch die logische Erkenntnis immer begrenzt und unvollständig.

Das bedeutet jedoch nicht, daß das Mythische einseitig überbetont wurde. Der Mensch der früheren Hochkulturen sah die Welt nicht einseitig logisch, sondern mytho-logisch, weshalb die Gegenwart der höheren Welten und Wesen zum selbstverständlichen Wissen gehörte. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß mýthos einen höheren Stellenwert hatte als lógos, weil mýthos als offenbarte, offensichtliche Erkenntnis eine viel tiefere Einsicht in die Wirklichkeit vermittelt als lógos.

In diesem Sinn ist Hölderlin alles andere als ein logischer Dichter; er ist ein mythischer Dichter. Er schöpft aus inspirierten, mythischen Visionen und formuliert sie in einer entsprechenden Sprache, die sich der gewöhnlichen Logik entzieht. Deshalb bezeichnen „logische“ Menschen ein solches mythisches Werk oft vorschnell als verrückt – was im Fall von Hölderlins Werk für lange Zeit ja auch geschah!

Nacht und Tag

Das häufigste und wichtigste Symbol für die zyklische Anlage der Zeit ist der Wechsel von Nacht und Tag. Hölderlin bezeichnet das gegenwärtige Zeitalter als eine Nacht der Götterferne und sah sich selbst als „Dichter in dürftiger Zeit“. Gleichzeitig aber sah er auch – im Spiegel der vergangenen und zyklisch wiederkehrenden Göttertage –, daß die gegenwärtige Nacht bald durch einen neuen Tag abgelöst werden wird:
Denn so kehren die Himmlischen ein, so steiget in Nächten
Vorbereitet herab unter die Menschen ihr Tag.
#fn:3
In die Vergangenheit blickend, erkennt Hölderlin, daß während des vergangenen Tages (d. h. während des Tages vor der gegenwärtigen Nacht) die Götter für die Menschen sichtbar gegenwärtig waren:
Götter wandelten einst bei Menschen, die herrlichen Musen
Und der Jüngling Apoll, heilend, begeisternd …
#fn:4
Und Hölderlin weiß von einer Wahrsagung, daß die Götter wieder zurückkehren werden:
… Die Wahrsagung
Zerreißt nicht, und umsonst nicht wartet,
Bis sie erscheinet, Herakles Rückkehr.
#fn:5
Nämlich, als vor einiger Zeit, uns dünket sie lange,
Aufwärts stiegen sie all, welche das Leben beglückt, …
Ließ zum Zeichen, daß einst er da gewesen und wieder
Käme, der himmlische Chor einige Gaben zurück, …
Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst
Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit …
#fn:6
Friedrich Hölderlin ist jedoch kein Polytheist, sondern ein erklärter Theist oder „Monotheist“, allerdings nicht im kirchlichdogmatischen Sinn. Er weist darauf hin, daß die Himmlischen genauso wie die Menschen dem Höchsten, dem „Vater“, „helfen“ (seinem Willen dienen), daß die Himmlischen aber dennoch den Menschen übergeordnet sind und manchmal sogar auf der Erde „brennend“ eingreifen:
Die [Himmlischen] helfen dem Vater.
Denn ruhen mögen sie. Wenn aber
Sie reizet unnütz Treiben
Der Erd’ und es nehmen
Den Himmlischen
die Sinne, brennend kommen
Sie dann …
#fn:7
Das Ende der Nacht

Hölderlins Blick in die Vergangenheit geht bis zum Beginn des vorigen Göttertages, der die vorangegangene Nacht ablöste und die Menschen, die wie heute auch damals schliefen, weckte:
Des Ganges Ufer hörten des Freudengotts
Triumph, als allerobernd vom Indus her
Der junge Bacchus kam, mit heilgem
Weine vom Schlafe die Völker weckend.
#fn:8
Hölderlin weist darauf hin, daß der vergangene Tag mit dem Triumphzug des Freudengottes von Indien her in den Westen begann. Er greift hierbei auf den griechischen mýthos des Dionysos (Bacchus) zurück, dessen Geburt das Ende der Nacht ankündigte, der in jungen Jahren bis zum Ganges zog und von dort in den Westen zurückkehrte, „mit heilgem Weine die Völker weckend“.

In der Hymne Am Quell der Donau erwähnt Hölderlin ebenfalls, daß es „das Wort aus Osten“ ist, das „in den kalten Schatten“ des Abendlandes den Tag einleitet und zur „menschenbildenden Stimme“ wird:
Wie wenn … das Vorspiel, weckend, des Morgens beginnt
… Bis in den kalten Schatten das Haus
Von Begeisterungen erfüllt [ist] …: so kam
Das Wort aus Osten zu uns,
Und an Parnassos Felsen und am Kithäron hör’ ich
O Asia, das Echo von dir, und es bricht sich
Am Kapitol und jählings herab von den Alpen
Kommt eine Fremdlingin sie
Zu uns, die Erweckerin,
Die menschenbildende Stimme.
Da faßt’ ein Staunen die Seele
Der Getroffenen all und Nacht
War über den Augen der Besten. …
#fn:9
Spuren, die bis an den Indus führen

Friedrich Hölderlin war, vor zweihundert Jahren, der erste deutsche Dichter, der den Osten und namentlich auch Indien in sein Weltbild miteinbezog. Er vertrat die Ansicht, daß die Spuren göttlicher Kultur nicht erst im Land des alten Testaments einsetzen. Folgendes sind die eindeutigsten Stellen in Hölderlins Werk, die einen indischen Ursprung der Kulturen erwähnen:
Mein Vater ist gewandert, auf dem Gotthard …
Zu dem Olympos und Hämos,
Wo den Schatten der Athos wirft,
Nach Höhlen in Lemnos.
Anfänglich aber sind
Aus Wäldern des Indus
Starkduftenden
Die Eltern gekommen.
#fn:10
Jetzt komme, Feuer!
Begierig sind wir
Zu schauen den Tag …
Wir singen aber vom Indus her
Fernangekommen …
#fn:11
Genau in der Hälfte seines Lebens, als er sechsunddreißigeinhalb Jahre alt war (Hölderlin wurde 73), ereignete sich ein entscheidender Einschnitt in seinem Leben: Er wurde in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen. Bereits in der ersten Hälfte seines Lebens hatte Hölderlin vorausgesehen, was auf ihn zukommt. Berühmt ist das Gedicht mit dem prophetischen Titel Hälfte des Lebens, mit dem Hölderlin den Stil des Expressionismus um einhundert Jahre vorweggenommen hat.

Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Der neue Tag

In der bereits zitierten Anfangsstrophe der Ode Dichterberuf („Des Ganges Ufer …“) malt Hölderlin das Szenario des Triumphzuges des jungen Weingottes Bacchus, denn dieser weckt mit „heiligem Weine“ die Völker. (Der Ausdruck „Weingott“ muß also symbolisch verstanden werden.) Hölderlin weist nachdrücklich darauf hin, daß die Dichter „des Weingotts heilige Priester“ sind und die Aufgabe haben, dem Freudengott, der vom Ganges her kommt, vorauszueilen und den neuen Tag anzukünden.
… Indessen dünket mir öfters,
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein,
So zu harren, und was zu tun indes und zu sagen,
Weiß ich nicht – und wozu Dichter in dürftiger Zeit?
Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,
Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.
#fn:12
Auch in der gegenwärtigen Nacht soll der Dichter als „heiliger Priester“ dem „Weingott“, der von Indien kommt, vorauseilen, genauso wie damals, als das Ende der vorigen Nacht nahte. Mit anderen Worten, der vergangene Tag begann, als „das Wort aus Osten zu uns“ kam, und auch heute wird der Tag beginnen, wenn das Wort aus Osten wieder zu uns kommt …

„Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte …“

Obwohl sich Friedrich Hölderlin unverstanden und einsam in einer „dürftigen Zeit“ fand und darunter (zumindest in der ersten Hälfte seines Lebens) sehr litt, hatte er eine optimistische Vision von „besseren Tagen“ und setzte große Hoffnung in die „Enkel“, die künftigen Generationen:
„Meine Liebe ist das Menschengeschlecht, freilich nicht das verdorbene, knechtische, träge, wie wir es nur zu oft finden … Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn dies ist meine seligste Hoffnung, der Glaube, der mich stark erhält und tätig, unsere Enkel werden besser sein als wir … Dies ist das heilige Ziel meiner Wünsche und meiner Tätigkeit – dies, daß ich in unserm Zeitalter Keime wecke, die in einem künftigen reifen werden.“ #fn:13
„Man kann jetzt den Menschen nicht alles gerade heraussagen, denn sie sind zu träg und eigenliebig, um die Gedankenlosigkeit und Irreligion, worin sie stecken, wie eine verpestete Stadt zu verlassen, und auf die Berge zu flüchten, wo reinere Luft ist und Sonne und Sterne näher sind, und wo man heiter in die Unruhe der Welt hinabsieht, das heißt, wo man zum Gefühle der Gottheit sich erhoben hat, und aus diesem alles betrachtet, was da war und ist und sein wird.“ #fn:14
„Es ist fast nicht möglich, unverhüllt die schmutzige Wirklichkeit zu sehen, ohne selbst darüber zu erkranken; … was das Allgemeine betrifft, so hab’ ich Einen Trost, daß nämlich jede Gärung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zu neuer Organisation notwendig führen muß. Aber Vernichtung gibts nicht, also muß die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wieder kehren. … Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schamrot machen wird.“ #fn:15
Reinkarnation

Wird Hölderlins Werk durch Visionen oder vielmehr durch Erinnerungen bereichert? Man kann nämlich Hölderlin – wie jeden anderen Menschen auch – nicht unabhängig vom Wissen um die Reinkarnation verstehen. Wenn man das Leben eines Menschen betrachtet, muß man sich immer vor Augen halten, daß man hier nur einen kleinen Ausschnitt, eine Etappe in der spirituellen Entwicklung eines Individuums, vor Augen hat.

Hölderlin selbst kannte die Reinkarnation (er sprach von ihr als Palingenesie) aus den Schriften der Griechen – Pythagoras, Sokrates, Platon – und aus den Schriften seiner Zeitgenossen Lessing und Herder. Und in seinem Werk klingt immer wieder das Wissen um die ewige Seele an, die vor der Geburt bereits an anderen Orten gelebt hat und auch nach dem Tod weiterleben wird:
Röschen! unser Schmuck veraltet,
Stürm’ entblättern dich und mich,
Doch der ewge Keim entfaltet
Bald zu neuer Blüte sich.
#fn:16
Heilge Natur, …
Wenn ich altre dereinst, siehe, so geb ich dir,
Die mich täglich verjüngt, Allesverwandelnde,
Deiner Flamme die Schlacken,
Und [als] ein anderes leb ich auf.
#fn:17
In Hölderlins Werk klingen sehr oft, bewußt oder unbewußt, Erinnerungen an eigene frühere Leben im „unermeßlichen Kreislauf“ von Geburt und Tod an. In einem Brief erinnert sich Hölderlin an die
„Platanenhaine am Illisus, … wo ich unter Schülern Platons hingelagert, dem Fluge des Herrlichen nachsah, wie er die dunklen Fernen der Urwelt durchstreift, oder schwindelnd ihm folgte in die Tiefe der Tiefen, … wohin die ausgeströmten Kräfte zurückkehren nach ihrem unermeßlichen Kreislauf …“ #fn:18
Immer wieder erinnert sich Hölderlin in seinen Werken an Platon, z. B.:
Und wie um Platons Hallen,
Wenn durch der Haine Grün,
Begrüßt von Nachtigallen,
Der Stern der Liebe schien …
#fn:19
Im Schatten der Platanen, …
Wo mein Plato Paradiese schuf …
#fn:20
Dies wird verständlich, wenn man bedenkt, daß Platon ein früher Meister jenes unbekannten Schülers war, der erst später, als Friedrich Hölderlin, zu Ruhm gelangen sollte.

Hölderlins persönliches Schicksal
Der Frühling kommt; es dämmert das neue Grün;
Er aber wandelt hin zu Unsterblichen;
Denn nirgend darf er bleiben, als wo
Ihn in die Arme der Vater aufnimmt.
#fn:21
Die materielle, vergängliche Welt ist nicht die Heimat der Seele; weder geistige Erbauung noch Einheit mit der Natur noch irdische Liebe können der ewigen Seele eine bleibende Zuflucht bieten. Dies erkannte Hölderlins Roman-Gestalt Hyperion nach all seinen Enttäuschungen und Schmerzen („Meine Seele ist, wie ein Fisch, aus ihrem Elemente auf den Ufersand geworfen und windet sich …“), und dies war auch die tiefe Erkenntnis, zu der Hölderlin durch sein eigenes Leben fand.

Hölderlin erreichte den Ort noch nicht, „wo ihn in die Arme der Vater aufnimmt“, aber er gehört zu jenen seltenen Menschen, die dieses Ziel bewußt erkannten, anerkannten und anzustreben begannen:
Der Höchste, der ists, dem wir geeignet sind … #fn:22
Hölderlin blieb seinem Ideal – dem Streben nach dem Höchsten, nach Vollkommenheit – bis zu seinem Tod treu. Nur wenige Tage vor seinem Tod schrieb er, der für die Umwelt bereits seit Jahrzehnten als verrückt galt, folgende Strophe unter dem vielsagenden Titel Die Aussicht:
Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten,
Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten,
Ist aus Vollkommenheit; des Himmels Höhe glänzet
Dem Menschen dann, wie Bäume Blüt’ umkränzet.
Die verweilende Natur ist die Kulisse für das „Bild der Zeiten“, die „schnell vorübergleiten“. Wenn der Mensch hinter diesem Bild der Zeiten die Hand des Vollkommenen erkennt, schöpft er selbst „aus Vollkommenheit“, und „des Himmels Höhe glänzt dem Menschen dann“, genau wie wenn Bäume von Blüten umkränzt werden. Doch dies ist noch nicht das eigentliche Ziel des Lebens. Das Bild, das der sterbende Hölderlin zeichnet, enthält eine einfache, wunderbare Symbolik: Das Ziel der blütenumkränzten Bäume ist es nicht einfach, Blüten zu tragen, sondern Früchte hervorzubringen, doch hierfür muß der Mensch eine andere Jahreszeit, eine andere Phase der zyklischen Zeit, abwarten. Aber die reife Frucht („Vollkommenheit; des Himmels Höhe“) entfaltet sich nur dort, wo es Blüten gibt!

Das sind nicht die Worte eines unzurechnungsfähigen Psychopathen, sondern Ausdruck eines Menschen, der tief mit den Wahrheiten des Lebens gerungen hat und noch tiefer vordringen wird.

Er selbst hatte vorausahnend, kurz vor seiner „Verhaftung“, geschrieben:
Der Frühling kommt. Und jedes, in seiner Art,
Blüht. Der ist aber ferne; nicht mehr dabei.
Irr ging er nun; denn allzugut sind
Genien. Himmlisch Gespräch ist sein nun.
#fn:23
Die Erfüllung einer alten Weissagung

Daß die Menschen heute in einer Nacht der Götterferne und Gottlosigkeit leben, ist offensichtlich. Hölderlin beklagte diesen Zustand bereits vor zweihundert Jahren und sah gleichzeitig den Anbruch eines neuen Tages voraus. Aber auch diejenigen, die wissend bereits das Ende der Nacht erahnen und ersehnen, können die Zeit nicht zwingen und müssen Geduld üben. Es geschieht, wenn es geschehen soll. In diesem Dilemma befand sich auch Hölderlin: Der sehende Dichter darf den neuen Tag bereits schauen und ankündigen, muß dafür aber in seiner Gegenwart unter Einsamkeit und Unverstandensein leiden.

Umso emphatischer und enthusiastischer sind deshalb Hölderlins Visionen, wenn er die Zukunft schaut und sich selbst bereits als Kind dieser Zukunft sieht:
Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt,
Siehe! Wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ist’s!
Wunderbar und genau ist’s als an Menschen erfüllet,
Glaube, wer es geprüft! …
#fn:24
Ein Kommentator erläutert diese Textstelle:
„Die Erfüllung der Weissagung wird sich nicht im Morgenland, wo die Alten sie sangen, sondern im Abendland, bei uns in Hesperien ereignen …“ #fn:25
Die alte Weissagung kündet eine Zeit an, in der ein neues Geschlecht von „Kindern Gottes“ ein Neues Zeitalter einleiten werde. Was Hölderlin voraussehend einer zukünftigen Generation zujubelte, wird heute wahr: Gottkinder und Sternkinder aus verschiedensten Inkarnationslinien haben sich auf der Erde eingefunden, und es werden immer mehr, die erwachen. Dies wurde schon vor langer Zeit geweissagt, und „Siehe! Wir sind es, wir“!

Das ist keine Selbstüberschätzung und kein Wunschdenken, sondern die „Frucht von Hesperien", eine jener Früchte, die zur gegebenen Zeit aus den bereits genannten „Blüten“ hervorgehen. Hölderlins Aussicht beschreibt hier die Frucht einer langen Entwicklung und Vorbereitung, die zurückreicht bis in die Zeit der Hesperiden, der Töchter des Hesperos oder Atlas, der in Hesperien lebte, wo Herakles die elfte seiner zwölf Heldentaten vollbrachte. Den Weg nach Hesperien, ins „Land des Abendsterns (Hesperos)“, hatte ihm Prometheus verraten. Der Weg führte durch die Meerenge von Gibraltar hinaus auf den Atlantik, weshalb die Griechen Gibraltar die „Säulen des Herakles“ nannten. Und was sagte Platon? Jenseits der Säulen des Herakles sei der Inselkontinent Atlantis gelegen …
Frucht von Hesperien ist’s! Wunderbar und genau ist’s [genauso wie’s geweissagt wurde], als an Menschen erfüllet [jetzt, wo es sich bei den Menschen, bei uns, erfüllt].
Zweihundert Jahre vor dem Aufkommen des New Age sprach Hölderlin bereits konkret über ein neues Zeitalter, über die „Frucht von Hesperien“, über „Götter“ (gottzugewandte Außerirdische) und „Kinder Gottes“ (inkarnierende Lichtseelen). Wenn man in Betracht zieht, wie wenige Menschen heute an ein neues Zeitalter glauben, dann muß man sich fragen, wie Hölderlin bereits damals eine solch weitreichende Sicht haben konnte – in Abwesenheit all der vielen Zeichen, die sich heute häufen:
Er kennt im ersten Zeichen Vollendetes schon,/ Und fliegt, der kühne Geist, wie Adler den Gewittern, weissagend seinen/ Kommenden Göttern voraus.“ #fn:26
Was Hölderlin über Rousseau schrieb, trifft noch mehr auf ihn selbst zu.

Die Wiederkunft der „Göttermenschen“

Die Reinkarnationslinie vieler Menschen, die gerade in der heutigen Wendezeit auf der Erde inkarniert sind, läuft durch Atlantis und Europa. Bei anderen läuft sie durch Indien und Asien, andere kommen sogar direkt von entfernten Planeten und Galaxien. Die gegenwärtige Phase muß also eine ganz spezielle Zeit sein, da so viele Seelen aus allen Himmelsrichtungen auf der Erde (und in Erdnähe!) weilen:
Denn die da kommen sollen, drängen uns,
Und länger säumt von Göttermenschen
Die heilige Schar nicht mehr im blauen Himmel. #fn:27
Wie konkret Hölderlin diese Aussage versteht, wird klar, wenn man die Zeilen liest, die in dieser Hymne Germanien der oben zitierten Textstelle vorausgehen:
Entflohene Götter! auch ihr, ihr gegenwärtigen, damals
Wahrhaftiger, ihr hattet eure Zeiten.
Nichts leugnen will ich hier und nichts erbitten.
Denn wenn es aus ist, und der Tag erloschen,
Wohl trifft’s den Priester erst …
Nur als von Grabesflammen, ziehet dann
Ein goldner Rauch, die Sage, drob hinüber,
Und dämmert jetzt uns Zweifelnden um das Haupt,
Und keiner weiß, wie ihm geschieht. Er fühlt
Die Schatten derer, so gewesen sind,
Die Alten, so die Erde neubesuchen.
#fn:28
Denn die da kommen sollen, drängen uns,
Und länger säumt von Göttermenschen
Die heilige Schar nicht mehr im blauen Himmel.
„Götter wandelten einst bei Menschen.“ Heute sind sie „entflohen“, und es blieb nur, wie „ein goldner Rauch, die Sage“. Aber sie sind immer noch gegenwärtig, und sie werden „die Erde neubesuchen“. Wer sind sie, die da kommen sollen und uns sogar drängen? Es sind jene, die einst dagewesen: „Die heilige Schar von Göttermenschen … im blauen Himmel“!

Wen wundert’s, daß die Menschen jemanden, der solche Ansichten vertrat, für verrückt erklärten? Heute, zweihundert Jahre später, reagieren viele noch genauso, wenn sie von „Göttermenschen“ hören – weil sie auf die Menschen-Götter hören und deren Herr-Göttern (Mammon & Co.) hörig sind.
Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Deshalb ist heute, wo die Gefahr am größten ist, auch das Rettende nah und größer als je zuvor.

Dieser Auftakt zum Gedicht Patmos ist heute wahrscheinlich das bekannteste und auch aktuellste Hölderlin-Zitat.
  1. Der Frieden, 37ff.
  2. Wie wenn am Feiertage, 19f.
  3. Der Weingott, 71f.
  4. Götter wandelten einst bei Menschen, 1f.
  5. Chiron, Schlußstrophe
  6. Brot und Wein, 124ff.
  7. Fragment Wenn aber die Himmlischen, 86ff.
  8. Dichterberuf, 1ff.
  9. Am Quell der Donau, 31ff.
  10. Der Adler, 1ff.
  11. Der Ister, 1ff.
  12. Brot und Wein, 119ff.
  13. Brief an den Bruder, September 1793
  14. Brief an die Mutter, 11. Dezember 1798
  15. Brief an Johann Ebel in Paris, 10. Januar 1797, acht Jahre nach der französischen Revolution
  16. An eine Rose, 5ff.
  17. Ihre Genesung, Zweite Fassung, 13ff.
  18. Brief an Neuffer, 21. Juli 1793
  19. Der Gott der Jugend, 33ff.
  20. Griechenland, 1ff.
  21. Der gefesselte Strom, 21ff.
  22. Dichterberuf, 14ff.
  23. Ganymed, Schlußstrophe
  24. Brot und Wein, Schlußtrophe
  25. Jochen Schmidt, in: Hölderlin Gedichte, Frankfurt/M (Insel Verlag) 1984, S. 355
  26. Rousseau, Schlußstrophe
  27. Germanien, 30ff.
  28. Das heißt: So wie sie einst dagewesen sind, so werden sie, die Alten, die Erde neubesuchen. Er, der Priester, ahnt dies, obwohl auch er noch nicht weiß, wann und wie. Doch fühlt er bereits die Schatten, die denen, die da kommen sollen, vorauseilen.

Neues Buch von Armin Risi