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armin-risi.ch · Triskele
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Armin Risi
Philosoph • Autor • Referent
Radikal umdenken – neue Wege und Weltbilder
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Lichtwelle (2/2009)

Zeit und Ewigkeit

Interview mit Armin Risi

Das Schwerpunktthema dieser Lichtwelle-Ausgabe lässt sich von unterschiedlicher Seite betrachten, nicht zuletzt auch von der philosophischen. Im folgenden Interview stellten wir Armin Risi deshalb Fragen, welche die philosophische Betrachtung ins Zentrum rücken. Armin Risi verbindet westliche und indische Philosophie durch eine ganzheitliche, theistische Weltsicht.

Ewig, dauerhaft und unsterblich – das ist die Natur unseres spirituellen Seins. Wie widerspiegelt sich die Ewigkeit in unserem irdischen Zeitrahmen?

Unser zeitliches Dasein ist nicht getrennt von der Ewigkeit. Ewigkeit ist der Hintergrund der Zeit. Mystiker sagen: „Zeit ist wie der Schatten der Ewigkeit.“ Wenn wir mit dieser Sicht der Ewigkeit durch unser zeitliches Dasein gehen, können wir vieles aus einer anderen Perspektive sehen.

Was ist der Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit?

Ewigkeit ist nicht unendlich lange Zeit. Ewigkeit ist nicht ein Ablauf von zig Milliarden von Jahren, und irgendwann wird es dann ewig – nein. Zig Milliarden von Jahren ist immer noch Zeit. Zeit ist Unendlichkeit. Ewig jedoch ist das Sein, das nicht an die Zeitlichkeit gebunden ist. Ewigkeit ist die Zeitlosigkeit. „Ewig“ bedeutet raum- und zeitlos. Wir können uns mit unserem materiellen Verstand Raum- und Zeitlosigkeit nicht vorstellen, denn dieser ist ein Produkt von Raum und Zeit. Hier berührt unser Bewusstsein, das ja nicht auf den Verstand beschränkt ist, die Ewigkeit.

Zeit ist Unendlichkeit, und Unendlichkeit ist nicht dasselbe wie Ewigkeit. Wie sind Unendlichkeit und Ewigkeit verbunden? Wie unterscheiden sie sich?

Wir können dies durch eine Analogie veranschaulichen, ein schönes Beispiel aus dem zweidimensionalen Bereich: eine Gerade. Wie viele Punkte sind auf einer Geraden?

Unendlich viele.

Und wie viele Punkte sind auf der Fläche daneben?

Noch unendlicher viele. (lacht)

Gleich viel unendlich wie auf der Geraden?

Ja.

Ja, unendlich bedeutet unbegrenzt. Und nur schon in diesem zweidimensionalen Beispiel ist die Unendlichkeit für uns unvorstellbar. Hier bekommen wir ein Gefühl für mystische Wahrnehmung. Beides ist unendlich, und trotzdem ist es nicht dasselbe. Die Fläche symbolisiert die Ewigkeit, die Gerade die Unendlichkeit. Die Gerade ist die lineare Zeit, eingebettet in die Fläche, die Ewigkeit. Es wäre eine Illusion zu meinen, die Gerade sei getrennt vom Hintergrund, oder noch beschränkter, es gebe nur die Gerade und keine Fläche, keinen Hintergrund. Die Existenz der Linie ist ein Beweis für die Existenz der Fläche. Die Vergänglichkeit ist ein Beweis für die Ewigkeit, denn die Vergänglichkeit ist der Schatten. Und ein Schatten existiert nicht von selber. So bekommen wir ein Gefühl dafür, was das Wesen von Unendlichkeit und Ewigkeit ist.

Wie beeinflusst die universelle unendliche Dauer des Energieflusses den zeitlichen endlichen Wandel in den irdischen materiellen Formen?

Wenn wir davon ausgehen, dass die Ewigkeit – die Zeitlosigkeit – unsere Realität ist und die Zeit trägt, so wie die Fläche die Gerade trägt, und dann die Materie betrachten, erkennen wir Folgendes: Die Materie hat die Aufgabe, in einem unendlichen Fluss vergängliche Formen hervorzubringen. Die Energie ist ewig, die Formen sind vergänglich. Hier haben wir in den alten mystischen Schriften bereits den Energieerhaltungssatz. Die Menschen damals kannten vielleicht nicht die mathematische Formel, aber sie haben aus diesem Bewusstsein der Unendlichkeit und Ewigkeit heraus gelebt. Im Sanskrit wird Energie Prakṛti genannt, wörtlich „das Hervorbringende, das Produzierende“. Energie – auch die materielle Energie – ist potenziell ewig. Der Fluss ist unendlich, die einzelnen Formen sind vergänglich. Hier wird oft von Māyā, „Illusion“, gesprochen. Aber nicht die vergänglichen Formen sind Illusion. Die Welt und auch unser Körper ist nicht Illusion. Das Materielle ist ebenfalls Realität, eine relative Realität, aber dennoch Realität. Illusion, Māyā, ist ein Bewusstseinszustand: wenn ich mich ausschliesslich mit der Materie identifiziere und meine, ich sei vergänglich wie mein Körper und es gebe nichts anderes als die Materie. Nebenbei gesagt, ist dieses Weltbild die Grundlage der heutigen Wissenschaft. Und diese Beschränktheit des menschlichen Geistes wird als „Fortschritt“ bezeichnet …

Mit dem Begriff Māyā sind wir bei der indischen Philosophie angekommen. Wie wird dort Zeit beschrieben?

Der Sanskrit-Begriff für Ewigkeit ist sat. Wir finden dieses Wort z. B. in Sat-Cit-Ānanda und in Satsaṅg. „Sat“ bedeutet wörtlich „Sein“, und zwar das zeitlose Sein, im Gegensatz zu kāla – die lineare Zeit. Kāla kennen wir vor allem vom Namen der Göttin Kālī – nicht zu verwechseln mit dem Kali aus „Kali-Yuga“ (mit kurzem a und kurzem i). Kālī ist die Personifikation von Kāla, die Wesenheit der Zeit. In Indien wird sie dargestellt als die Göttin, die auf dem Tiger reitet, mit herausgestreckter Zunge und mit einer Halskette aus Totenschädeln. Als die Menschen aus dem christlichen Westen vor ein paar hundert Jahren nach Indien kamen und diese Darstellungen sahen, meinten sie, Kālī sei ein weiblicher Teufel. Aber das war und ist ein grosses Missverständnis. Kālī ist die Kraft der alles verschlingenden Zeit. Für diejenigen, die sich mit der Zeit identifizieren, ist Kālī natürlich die grösste Bedrohung, die Kraft, die alles wegnimmt – und deshalb hatten die patriarchalen Religionsstrukturen Angst vor der weiblichen Energie. Kālī ist ein Aspekt des Duals von Śiva: Kālī ist die Zeit und Śiva der Raum, und gemeinsam sind sie die mittelbaren Schöpfer der materiellen Welt.

Kāla ist also die Zeit und Sat die Zeitlosigkeit, die Ewigkeit. Und wir sind Sat-Cit-Ānanda; das ist die qualitative Einheit mit Gott. Gott ist ewig, deswegen sind wir ewig. Gott hat Bewusstsein, deswegen haben wir Bewusstsein. Gott ist in sich erfüllt und vollständig, deswegen können auch wir erfüllt sein und innere Zufriedenheit erlangen. Dies ist die Bedeutung von Ānanda in Sat-Cit-Ānanda und wird meistens übersetzt mit „Glückseligkeit“ (die Silbe Cit bedeutet „Bewusstsein“). Wenn wir entsprechend unserer Sat-Cit-Ānanda-Natur leben, sind wir in Einheit mit Gott, und diese Einheit ist das Bewusstsein der Liebe. In der Liebe sind wir zwei und trotzdem eins, wir sind nicht getrennt und trotzdem individuell. Wenn wir nur eins sind, besteht keine Liebe, und wenn wir nur zwei sind, sind wir getrennt. Liebe bedeutet, eins und individuell zu sein, dies ist das mystische Verständnis der göttlichen Liebe. Die Frage lautet: Wie weit sind wir uns dessen bewusst? Natürlich sind wir immer ewig, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Doch dann leben wir in der Projektion, und Ewigkeit ist für uns keine Realität mehr. Dann sind wir nicht mehr im Bewusstsein des Zeitlosen (Sat), sondern im Bewusstsein des Sat-losen. Sat-los bedeutet „getrennt von der Ewigkeit“: „Sat-an“. Wir sind nicht mehr im Bewusstsein der Einheit, nicht mehr im Bewusstsein der Ewigkeit, nicht mehr im Bewusstsein der Liebe. Und dann fehlt uns vieles. Dann müssen wir bei andern holen, was uns fehlt, wir machen Übergriffe, leben von fremden Energien, und das ist der Beginn des Bösen – auf subtile Weise bereits in den hohen geistigen Ebenen.

Wenn wir die Ewigkeit „vergessen“, fallen wir also in die Projektion und in die Trennung von der Einheit? Was bedeutet das konkret?

Wenn wir uns als die ewigen Wesen sehen, die wir sind, dann hat dies ganz konkrete Auswirkungen auf unser Leben und darauf, wie wir die Welt betrachten. Denn Ewigkeit ist immer im Hier und Jetzt. Ewigkeit ist ewige Gegenwart. Und Teil dieses Ewigseins ist unser freier Wille. Das heisst, wir haben in jedem Moment Zugriff zum freien Willen. Unser Leben ist nicht nur prädestiniert, nicht alles ist eine notwendige Erfahrung. Man könnte sogar formulieren: Nichts ist eine notwendige Erfahrung – aber aus allem kann ich etwas lernen. Gerade weil es nicht notwendig ist, kann ich etwas lernen. Gäbe es nur die Prädestination, dann läge die Ursache in der Vergangenheit, ausserhalb meiner Reichweite. Was immer geschieht, wäre dann prädestiniert – vor allem auch bei den anderen, die dann „selber schuld“ sind. Aber im Hier und Jetzt, d. h. immer, habe ich meinen freien Willen. Dies gibt uns die Selbständigkeit und Individualität und auch die Selbstverantwortung zurück. Wir nehmen die Projektionen nicht nur philosophisch zurück, sondern auch ganz persönlich im Umgang mit Schuld, im Umgang mit anderen Menschen und mit dem, was uns passiert.

Freier Wille und Verantwortung – wie hängt das mit der Frage nach der Zeit und der Ewigkeit zusammen?

Ewigkeit – die Zeitlosigkeit – hat auch mit Gott zu tun. Wir sprechen vom ewigen Gott und vom Reich Gottes. Das ist nicht irgendwo im Himmel. Im Thomas-Evangelium wird folgender Ausspruch von Jesus überliefert:
„Wenn euch jemand sagt, das Königreich Gottes ist im Himmel, dann kommen euch die Vögel zuvor. Wenn jemand behauptet, das Königreich Gottes ist im Meer, dann kommen euch die Fische zuvor. Das Königreich Gottes ist überall, sowohl inwendig von euch als auch ausserhalb.“
Mit anderen Worten, es ist nicht nur in uns – das wäre ja auch wieder beschränkt –, sondern es ist überall, ausserhalb und innerhalb von uns. Diese Ewigkeit ist immer da, immer in der Gegenwart. Das Absolute ist nicht nur eine abstrakte Energie, sondern ist Bewusst-Sein, ist individuelles Sein: ewiges, unteilbares Sein. Individuell bedeutet ja wörtlich „unteilbar“, und das bedeutet auch, dass unser wirkliches Sein nicht in Vergangenheit und Zukunft geteilt ist. Es ist ewig, ewige Gegenwart. Deswegen ist „individuell“ auch ein Begriff für „ewig“. Hier auf Erden machen wir eine Erfahrung der Zeit, aber auch innerhalb dieser zeitgebundenen, vergänglichen Welt haben wir immer den freien Willen, der mit der Individualität ewiglich verbunden ist. Dieses Individuell-Sein ist ewig und muss nicht aufgelöst werden, weil es gar nicht aufgelöst werden kann. Deswegen ist der freie Wille eine ewige Realität – und damit auch die Eigenverantwortung.

Wie können wir diese Sicht bewusst in unser Alltagsleben mit einbeziehen?

Wenn Zeit der Schatten der Ewigkeit ist, dann haben wir es mit einer Projektion zu tun, denn Schatten ist immer eine Projektion. Wir leben hier in einer Welt von Projektion – da ist nichts Schlimmes dran. Das ist die natürliche Gegebenheit in der materiellen Welt. Das Problem beginnt dann, wenn wir uns in der Projektion verlieren und nicht mehr wissen, dass wir in einer Projektion leben. Dann verlieren wir uns in der Linearität der Zeit. Dann kommt Stress auf, dann entstehen Klagen und Sehnen. Man klagt um das, was einmal war und nicht mehr ist. „Man müsste nochmals zwanzig sein“, wie es in einem alten Schlager heisst. Oder man sehnt sich nach dem, was noch nicht gekommen ist, oder fürchtet sich vor dem, was noch kommt. So lebt man in der Projektion, in der Zukunft und in der Vergangenheit, aber nicht in der Gegenwart. Wir verlieren den Zugang zur Realität und damit auch zu unserem freien Willen und zu unserer Schöpferkraft. Und so wird unser Leben fremdbestimmt: Man gerät in Stress und hat „keine Zeit“, oder dann kommt Langeweile auf mit dem Ruf nach Unterhaltung, Sensation, Ablenkung, um die Zeit „totzuschlagen“.

Wie bringst Du persönlich die Ewigkeit in Deinen materiellen, zeitlichen, menschlichen Alltag?

Indem ich mein Leben auf dieses Bewusstsein und diese Ziele ausrichte. Klar, wir alle müssen Geld verdienen, wir müssen unsere Wohnung bezahlen, usw. Aber ich bin darauf bedacht, mir keine Zeit nehmen zu lassen. Ich will mir nicht diktieren lassen, wie ich meine Zeit – vor allem meine Freizeit – verbringen soll. Denn vieles ist aus höherer Sicht gar nicht so wichtig. Ich persönlich habe deshalb z. B. keinen Fernseher, kein Radio, keine Zeitung – und trotzdem bin ich nicht uninformiert. Wenn ich Information brauche, hole ich mir diese ganz gezielt, aber nicht als Konsum. Denn in dieser Zeit kann ich anderes tun, nämlich das, was mir aus der Sicht der Ewigkeit wichtig ist. Und wenn wir aus dem Bewusstsein der Ewigkeit heraus leben, identifizieren wir uns nicht mit der Projektion und müssen uns und anderen deshalb nichts beweisen. Wir können tun, was unserer Berufung entspricht.

Wenn wir hier im Westen über diese Zusammenhänge von Zeit und Ewigkeit hören, fragen wir uns: Wie schaffe ich das? Wie können wir im Alltag diese Verbindung mit der Ewigkeit halten oder sie zumindest nicht aus den Augen verlieren?

Das praktische Leben in Gottverbundenheit hat drei Aspekte. Im Indischen spricht man hier von Karma, Jñāna (ausgesprochen „Gjana“) und Bhakti. Diese ergänzen sich gegenseitig, und keines sollte fehlen.
  • Der erste Aspekt, Karma, bedeutet „richtiges Handeln“, aus dem Bewusstsein der Eigenverantwortung heraus. Es bedeutet, dass wir jederzeit den freien Willen haben und aus allem etwas lernen. Der Schatten erinnert uns ans Original, die Zeit erinnert uns an die Ewigkeit. Was immer in der Zeit passiert, kann uns an die Ewigkeit erinnern. Und was uns am meisten an die Ewigkeit erinnert, ist das, was den meisten Menschen Angst macht, nämlich der Tod. Die so genannte Sterblichkeit ist die ständig präsente Erinnerung, dass wir ewig sind.
  • Jñāna, der zweite Aspekt, bedeutet „Wissen“, spirituelles Wissen, Selbsterkenntnis, Reflexion – nicht nur Studium, aber auch. Man liest, man bildet sich. Statt täglich Fernsehen zu schauen oder Zeitung zu lesen, können wir diese Zeit auch verwenden, um uns mit dem wirklich Wichtigen zu befassen. Wenn die Theorie stimmt, dann haben wir gute Chancen, dass auch die Praxis stimmt. Also nichts gegen Theorie, nichts gegen Philosophie. Jñāna bezieht sich auf den Mentalkörper und hat zum Ziel, dass wir Klarheit und Ordnung in unseren Gedanken schaffen, und dies erreichen wir durch spirituelles Wissen. Spirituelles Wissen ist nie nur theoretisch.
  • Der dritte Aspekt, Bhakti, bedeutet „Hingabe“, Handeln aus dem Bewusstsein der inneren Einheit mit Gott heraus, aus dem gleichzeitigen Eins- und Individuell-Sein heraus. Oder wie es Jesus ausdrückte: „Dein Wille geschehe!“ Eine andere Möglichkeit, dies zu umschreiben, ist: aktives Geschehenlassen.
Die verschiedenen Lebensabschnitte – die Kindheit und Jugend, das Studienleben während etwa 10 Jahren, das Familienleben mit eigenen Kindern oder das Karriereleben während 25 bis 35 Jahren und dann noch die Jahre der Weisheit, hoffentlich, bis zum Tode – sind für die Menschen gültig. Warum gibt es auf Erden diese Zyklen, diese Regelmässigkeit der Vergänglichkeit?

Auch hier möchte ich zuerst philosophisch antworten: Die Ewigkeit spiegelt sich in der linearen Zeit in Form von Zyklen. Vor dem Hintergrund der Ewigkeit, der Raum- und Zeitlosigkeit – die aber nicht abstrakt oder ein Vakuum ist, sondern dynamisches Bewusstsein, und wir sind Teil dieser zeitlosen Realität –, vor diesem allgegenwärtigen Hintergrund vollzieht sich die materielle Schöpfung, die in sich auch wieder unendlich ist. Und die Unendlichkeit spiegelt die Ewigkeit in Form von Zyklen. Im Indischen wird dies dargestellt durch den Schöpfergott Viṣṇu, der die Universen aus- und einatmet. Die Universen, die Viṣṇu aus- und einatmet, sind vergänglich, aber die Energie ist ewig und bringt immer wieder Neues hervor.

Und auch hier gilt: Wie oben, so unten. Dieser Zyklus zeigt sich in unserem eigenen Leben in Form von Zeugung, Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter bis zum Tod. Für die Seele selbst gibt es weder Geburt noch Tod. Aus spiritueller Sicht gibt es keine Reinkarnation, denn wir sind ewig. Aus linearer Sicht reinkarnieren wir. Dieser zyklische Ablauf des Lebens in der Materie erinnert uns an die Ewigkeit – und ist ein Sprungbrett zurück in dieses Bewusstsein. In den indischen Schriften gibt es die Aussage, dass sogar die Lichtwesen sich wünschen, als Mensch auf der Erde geboren zu werden, um hier diesen Quantensprung der Ewigkeit zu erleben. Wenn man ein Lichtwesen-Dasein hat, könnte man, zumindest aus unserer menschlichen Sicht, fast vergessen, dass man eigentlich ewig ist, weil man ja praktisch ein unendliches Leben hat. Deswegen wird gesagt – vielleicht auch ein bisschen als Trost für uns Menschen, die hier mühselig und beladen sind –, dass sogar die Lichtwesen ein irdisches Dasein erleben möchten, um diese Chance zu bekommen, die du, o Mensch, jetzt hast.

Wie zeigt sich die zyklische Natur der Zeit in Bezug auf die Erde und die kosmischen Zyklen?

Die grossen kosmischen Zyklen werden bestimmt durch das Aus- und Einatmen des Viṣṇu, und diese Zyklen spiegeln sich auf allen Ebenen in Form von Unterzyklen: auf der Ebene des Kosmos, der Galaxis und unseres Sonnensystems. Wir kennen dies aus der Fraktalgeometrie, wo sich im kleinen Detail das wiederholt, was im Grösseren da ist: Man geht immer weiter in die Tiefe, und die Formen wiederholen sich unendlich, sowohl im Kleinen als auch im Grossen bis hin in die kosmische Unendlichkeit. Genauso ist es auch mit der Zeit. Im Sanskrit spricht man von Yuga-Zyklen. Im Mayakalender ist eine wichtige Zeiteinheit das Baktun, ein Zyklus von 144 000 Tagen. Der für uns relevante Zyklus besteht aus dreizehn solcher Baktuns: 13mal 144 000 Tage ergibt rund 5 200 Jahre, und es ist dieser Zyklus, der 2012 zu Ende geht. Gerade im Mayakalender wurde die Untersuchung der Fraktalnatur der Zeit zu einer Art von Wissenschaft entwickelt: Welcher Zeitabschnitt von früher wiederholt sich in der jetzigen Zeit? Infolge der fraktalen und zyklischen Natur der Zeit widerspiegeln sich frühere Abschnitte der Geschichte immer wieder in den entsprechenden Zeitmustern der Gegenwart – was für uns eine Chance ist, Altes aufzulösen. Zeit ist also nicht einfach ein Abstrampeln des Alltags, sondern eine dynamische Widerspiegelung der Ewigkeit in Form von Zyklen.

Können wir aufgrund der zyklischen Natur der Zeit auch die Vergangenheit vom Jetzt aus verändern?

Ja, in einem gewissen Sinn. Wir brauchen dafür nicht physisch in die Vergangenheit zu reisen, wie dies in Science-Fiction-Geschichten beschrieben wird. Wir können geistig in die Vergangenheit reisen und erst recht in die Zukunft. Denn im Hier und Jetzt bestimmen wir unsere Zukunft.

Die Uhrzeit kann uns davonlaufen oder für uns stillstehen – können wir der irdischen Zeit davonlaufen oder sie anhalten?

Ja, man kann vor der Zeit davonlaufen. Aber intuitiv spüren wir sogleich, dass das nicht die richtige Lösung ist. Denn die Zeit holt uns immer ein. Wir können Dinge verdrängen, aber die Vergangenheit holt uns ein, und zwar in der Gegenwart, und ruft uns an diesen Punkt zurück, damit wir die entsprechenden Themen angehen. Unsere hektische Zeit verwendet sehr viel Kosmetik – im wörtlichen sowie im übertragenen Sinn –, um der Zeit ein Schnippchen zu schlagen.

Zeit ist relativ. Wir können versuchen, der Zeit davonzulaufen oder die Zeit anzuhalten, doch beides ist nicht der wirklich sinnvolle Umgang mit Zeit. Denn beides funktioniert auf die Dauer nicht. Der Schlüssel ist, dass wir in der Gegenwart leben. Dazu möchte ich ein persönliches Beispiel geben: Mit 18 Jahren habe ich mich entschlossen, in ein Kloster zu gehen. Dies nicht, weil ich unbedingt Mönch und heilig sein wollte, sondern weil mich das Thema faszinierte: Sanskrit-Schriften. Ich sagte mir, in einem halben Jahr habe ich diesen etwa eineinhalb Laufmeter von Büchern gelesen und verstanden. Doch ich merkte rasch, dass es nicht nur um den Laufmeter und die Bücher ging, sondern um das Umsetzen und Lernen. Und ich gab das Denken in der linearen Zeit auf. Ich sagte mir, ich nehme es jetzt, wie es kommt, egal, wie lange es dauert, sogar wenn ich mein ganzes Leben hier bin. Es waren dann insgesamt 18 Jahre. Im Rückblick ist das eine lange Zeit, aber die Zeit ist nach meinem Empfinden weder besonders schnell vergangen, noch ist sie mir lang vorgekommen. In einem gewissen Sinn habe ich sie gar nicht wahrgenommen. Ich konnte jeden Tag im Hier und Jetzt leben, dies auch dank der klösterlichen Disziplin. Heute, wo ich nicht mehr in diesem tragenden Umfeld lebe, kann es passieren, dass ich mal in Hektik falle und dann jammere, ich hätte keine Zeit für alles, was nach Erledigung ruft. Dann erinnert mich mein eigenes Jammern daran, dass ich nicht in Māyā, in Illusion, sein sollte, sondern dass ich ewig bin und im Hier und Jetzt leben sollte.

Also ist es wirklich so, dass es dir in den ganzen 18 Jahren im Kloster nie langweilig war?

Langweilig …? Das ist ein lustiger Gedanke! Aber unsere Tage waren tatsächlich lang. Morgens um 4.15 Uhr ging es los, 4 bis 5 Stunden Meditation und Zeremonien – man könnte meinen, das wäre langweilig, jeder Tag der gleiche Ablauf. Aber diese Regelmässigkeit lehrte mich, immer im Hier und Jetzt zu sein. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich als Kind die Predigt erfahren habe – das war eine Qual und ich dachte ständig: Wann ist das vorbei? Objektiv hat der Pfarrer vielleicht 20 Minuten gesprochen, aber für ein Kind ist das eine Tortur. Diese 20 Minuten nehmen kein Ende – weil man aufs Ende hofft und sich an der Zukunft orientiert. Wenn wir im Hier und Jetzt zuhören, wäre die Predigt weder lange noch langweilig. Genauso ging es mir im Kloster, es kam mir nicht lange vor, sondern ich war immer in der Gegenwart. Ich dachte auch nicht: „Ich verpasse jetzt meine besten Jahre“, immerhin lebte ich dort von 18 bis 36. In dieser Zeit bekam ich ein intensives Gefühl für die Zeitlosigkeit.

Wir wissen, wir sind ewig. Wie kommen wir vom Wissen zum Fühlen – dass wir auch fühlen, dass wir ewig sind?

Im Sanskrit gibt es den wichtigen Satz: „Wenn sich der Mensch vom Bewusstsein der Ewigkeit trennt, entsteht Angst.“ Wir machen diese Trennung rückgängig, indem wir unsere Projektionen zurücknehmen. Stellen wir uns vor, jemand sitzt im Kino und schaut einen Horrorfilm und stirbt fast vor Angst. Wenn dieser Mensch sich in Erinnerung ruft, dass alles nur eine Projektion ist, dass alles nur ein Film ist – das Blut ist Tomatensaft und die Vampirzähne sind aus Plastik –, dann ist das Schlimmste schon einmal vorbei. Dieses Zurücknehmen der Projektion setzt ein gewisses Üben, ein gewisses Lernen voraus. Wir zögern vielleicht, unsere Projektionen zurückzunehmen, weil wir meinen, wir würden dadurch etwas verlieren. Das ist vergleichbar mit dem Schatten, der Angst vor dem Licht hat: „Wenn das Licht kommt, dann gibt es mich ja nicht mehr!“ Aber Schatten und Dunkelheit sind in diesem symbolischen Sinn nur eine Illusion. Wenn das Licht kommt, sehen wir die wahre Realität. Wir verlieren nichts, wenn wir all diese Projektionen zurücknehmen, all diese Vorstellungen darüber, was andere über uns denken, was sie von uns erwarten, was wir darstellen sollen, usw. Wenn wir das alles loslassen und einfach mal sind, was wir sind, dann ist das eine unglaubliche Erlösung. Wir kommen in der Gegenwart an. Wir tauchen auf aus dem Fluss der Zeit. Zumindest haben wir den Kopf wieder über Wasser und bekommen Luft. Der nächste Schritt ist dann noch der, dass wir ins Boot steigen, in „das Boot des Wissens“. Dann sind wir immer noch auf dem Zeitfluss, aber im Boot. Und das Boot ist immer die Gegenwart, das Hier und Jetzt. Dann verschwindet die Angst, vor allem auch die Angst vor dem Tod. Wenn diese Angst weg ist, bieten wir auch keine Angriffsfläche mehr für Manipulation und Einschüchterung. So kann man die Ewigkeit fühlen.

Was können wir dafür tun, um dies zu erreichen?

Dieses Bewusstsein kann man sich nicht einfach mental antrainieren oder es künstlich erzwingen. Hier schliesst sich der Kreis mit dem, worüber wir am Anfang gesprochen haben: Realität, Ewigkeit. Gott ist nicht einfach abstrakt. Es geht um das Eins- und Individuell-Sein, und dies hat immer auch mit Offenbarung, mit Gnade, zu tun. Wir mögen in Dunkelheit sein und uns aufrichtig wünschen, von dieser Dunkelheit frei zu werden, aber es ist das Licht, das dann die Dunkelheit auflöst. Und wir treten ins Licht, wenn wir das, was uns vom Licht trennt, loslassen, v. a. die Angst. Dies tun wir ganz natürlich, wenn wir nicht daran denken, und im Rückblick sieht es dann so aus, als sei es „plötzlich“ gewesen, ein „Klick“, ein Lichtstrahl scheinbar ohne Ursache. Und so sehen wir die Welt „plötzlich“ aus der Sicht der Ewigkeit. Wir nehmen sie ernst als die relative Realität, die sie ist, und wissen, dass sie nicht die einzige Realität ist. Hinter der Vergänglichkeit ist die Unendlichkeit. Hinter der Zeit ist die Ewigkeit.

Offenbarung kommt zu denen, die dafür bereit sind. Diese Bereitschaft hat nichts mit „Erleuchtungsstress“ zu tun: „Ich bin doch schon längst bereit für die Erleuchtung, warum kommt sie nicht?“ So kommen wir nicht weiter. Dies liegt nicht daran, dass Gott ein strafender oder parteiischer Gott ist, sondern daran, dass wir noch nicht bereit dafür sind – eben weil wir meinen, wir seien’s. Das ist ein mystisches Paradox. Wenn wir diese Verkrampfung loslassen, dann geschieht auf einmal „etwas“, und zwar dann, wenn wir es nicht erwarten – weil wir nichts fordern. Und dann wird dies „wie von selbst“ zum Natürlichsten, was es gibt. So wird auch Esoterik stressfrei! Wenn wir in der Gegenwart ankommen, sind wir am Berührungspunkt, wo Zeit und Ewigkeit miteinander verbunden sind. Wir kommen bei uns selbst an.

Und damit sind auch wir in der Gegenwart angekommen! Armin, ich danke dir für deine anregenden Ausführungen und Einblicke.

Neues Buch von Armin Risi