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armin-risi.ch · Triskele
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Armin Risi
Philosoph • Autor • Referent
Radikal umdenken – neue Wege und Weltbilder

„Jenseits von Gut und Böse“

Friedrich Nietzsches Ansatz zu transzendentaler Erkenntnis

Eine Analyse aus vedischer Sicht von Armin Risi

Prophezeiungen, Verschwörungstheorien, Selbsterlösungswege, Hoffnungen auf Gott und sogar schon „Gespräche mit Gott“ stehen in der modernen Esoterik hoch im Kurs. Verschiedenste Weltbilder werden propagiert: durch Gruppierungen, Bestseller-Autoren, Geheimlehren usw. Und alle glauben, recht zu haben und im Licht zu sein. Haben einige mehr recht als andere? Kann und darf man unterscheiden? Oder ist alles relativ? Sind wir einer philosophischen bzw. ideologischen Willkür ausgesetzt, ohne Kriterien und Maßstäbe für das, was Wahrheit ist? Gibt es überhaupt so etwas wie „Wahrheit“?

Heute, in einer Zeit von Verwirrung und Orientierungslosigkeit, drängt es sich einmal mehr auf, nach einer Antwort auf diese weltbewegenden Fragen zu suchen.
… denn ihr glaubt heute ungern,
wie man mir verraten hat, an Gott und Götter.
Vielleicht auch, daß ich in der Freimütigkeit
meiner Erzählung weiter gehen muß,
als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren immer liebsam ist?
Gewißlich ging der genannte Gott bei
dergleichen Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter,
und war immer um viele Schritte mir voraus …

Friedrich Nietzsche
Jenseits von Gut und Böse (Absatz 295)
Als Titel eines Buches von Friedrich Nietzsche ist die Wendung Jenseits von Gut und Böse weltberühmt geworden. Deshalb möchte ich in Form einer kurzen philosophischen Exkursion auf dieses Werk und seinen Autor eingehen. „Aus vedischer Sicht“ bedeutet aus einer Sicht, die den materiellen Kosmos als multidimensional und das Absolute jenseits des Relativen als konkrete Realität sieht, so wie dies aus höheren Quellen als Veda (Sanskrit für „[offenbartes] Wissen“) erkannt werden kann. Veda-bezogen („vedisch“) bedeutet also nicht spezifisch „indisch“, denn in allen Kulturen lassen sich Veda-Quellen finden. Diese widersprechen sich nicht, sondern können sich gegenseitig ergänzen.

Was ist „jenseits von Gut und Böse“? Was ist überhaupt „gut“? Und was ist „böse“? Diese heiklen Fragen, die letztlich vedische Kernfragen sind, hat auch der einflußreiche und umstrittene Philosoph Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) aufgegriffen und mit unerbittlicher Menschen-, Religions- und „Gott“-Kritik diskutiert – aber nicht beantwortet. Seine für das ausgehende 19. Jahrhundert revolutionären Ausführungen, da provokativ atheistisch, bieten uns hier einen abenteuerlichen, indirekten Zugang zum vedischen Weltbild von „gut“ und „böse“; denn über waghalsige philosophische Gratwanderungen verschaffte sich Nietzsche tatsächlich einen ersten Panoramablick in das weite Land jenseits von Gut und Böse. Doch allein, ohne genaue Ziel- und Wegkenntnis und ohne Bergführer stürzte er ab – um im nächsten Leben weiterzusuchen und zu finden.
Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
Ich lernte wohnen,
Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?

Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht? …

Jenseits von Gut und Böse (Nachgesang) #fn:1
Die Weltsituation, in der sich Nietzsche fand

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), dieser einzelgängerische, eigenwillige Philosoph, der die letzten zehn Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung verbrachte, ist eine höchst widersprüchliche Person. Für die einen ist der „der letzte große Philosoph“, für andere ist er ein vom Satan besessener „Antichrist“ (ein Ausdruck, den Nietzsche selbst prägte, nämlich in der Überschrift eines seiner Spätwerke: Der Antichrist – Fluch auf das Christentum).

Man muß sich in Nietzsches Lage versetzen: zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, militärische und industrielle Aufrüstung, das Versagen des Idealismus, Humanismus und der Religionen … Und nichts Besseres in Sicht. Im Gegenteil.
„Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist, und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein froher Botschafter […] Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Tal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat.“
Nietzsche 1889 in: Ecce Homo („Warum ich ein Schicksal bin“, Abs. 1)
„Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon […] Selbst wir geborenen Rätselrater, die wir gleichsam auf den Bergen warten, zwischen heute und morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen heute und morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald entwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Teilnahme für diese Verdüsterung, vor allem ohne Sorge und Furcht für uns, ihrem Heraufkommen entgegensehen? […] In der Tat, wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, daß der ‚alte Gott tot‘ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin wieder auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚offenes Meer‘.“
Die fröhliche Wissenschaft (Fünftes Buch „Wir Furchtlosen“, Abs. 343: „Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat“)
Heute, über einhundert Jahre später, wo die von Nietzsche genannten Gefahren weltumspannend geworden sind, können diese wiedergeborenen Sucher Finder höherer Offenbarungen werden. Und wieder sind es Außenseiter, die dieses Tor aufstoßen, wie in jeder Wendezeit, wie z. B. auch vor hundert Jahren.

Mut zur Wahrheit

So atheistisch Nietzsches Gedanken auch erscheinen mögen: sie kommen dem vedischen Weltbild näher als viele oberflächliche Heucheleien im Namen von Philosophie, Moral oder Religion, gegen die Nietzsche ja vehement Sturm lief. Das Streben nach Wahrheit (Veda), das auch mit Halbwahrheiten keinen Kompromiß macht, kann am Beispiel Friedrich Nietzsches eindrücklich illustriert werden. Wer die absolute Wahrheit sucht, muß gefaßt sein, sich manchmal auch in Einsamkeit, in „öden Eisbär-Zonen“, zu finden.
„Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann …“ (Abs. 34)
In der heutigen Welt mit all den atheistischen und monotheistischen Weltbildern kann man sich nur noch einer Sache sicher sein, sagt Nietzsche, aber deren ganz gewiß: All diese Weltbilder beruhen auf Irrtümlichkeiten. Nietzsche entlarvte überall solche Irrtümlichkeiten und Halbwahrheiten und schüttete sie – samt den Wahrheiten – aus wie den abgestandenen Inhalt halbleerer Gläser, damit sie gesäubert und neu gefüllt werden können. Womit, wußte er selbst noch nicht. Aber in einem war er sich sicher: daß der Weg zur Wahrheit das Zerschlagen von Halbwahrheit und Unwahrheit erfordert. Dies macht ihn, den „Philosophen mit dem Hammer“, zwar nicht zum Vertreter, aber zu einem frühen Wegbereiter eines transzendentalen Weltbildes „jenseits von Gut und Böse“. Einige Gedanken aus Nietzsches Werk Jenseits von Gut und Böse – Vorspiel einer Philosophie der Zukunft klingen tatsächlich fast wie ein „Vorspiel“ zur vedischen Philosophie …

Es wäre ein leichtes, Nietzsche anhand seines Werkes zu zerreißen. Der Widerspruch ist eines seiner häufigsten Stilmittel, und Textstellen, die scheinbar Menschenverachtung, Rassismus oder Atheismus ausdrücken, springen in ihrer kühnen radikalen Formulierung geradezu ins Auge. „Wille zur Macht“, „Übermensch“, „Antichrist“ und „Gott ist tot“ sind seine meistzitierten Schlagwörter – und die am meisten mißverstandenen. Man kann Nietzsche nicht von seinem Werk her verstehen, sondern nur von seiner Person; es geht um die Grundhaltung und nicht um die einzelne Aussage. Nietzsche zählte sich zu einer „neuen Gattung von Philosophen“, „freien Geistern“, die er selbst „Versucher“ (Abs. 42) nennt, in der doppelten Bedeutung des Wortes, und sah seine Aufgabe in einer „Umwertung aller Werte“, im Entlarven aller falschen Dogmen, Ideale und Moralphilosophien:
„Es will mir immer mehr so scheinen, daß der Philosoph als ein notwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden mußte: sein Feind war jedesmal das Ideal von heute … Indem sie [die Philosophen] gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verrieten sie, was ihr eigenes Geheimnis war: um eine neue Größe des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrößerung. Jedesmal deckten sie auf, wieviel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen-lassen, wieviel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen Moralität versteckt [war] …“ (Abs. 212)
Damit ist der Auftrag der heutigen Wahrheitspioniere schon vor mehr als einhundert Jahren mit Nietzsche’scher Schärfe formuliert worden.

Die Frage nach Gott
„Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur eine Häutung: – er zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wiedersehen, jenseits von Gut und Böse.“
Nachlaß (Die Unschuld des Werdens II, 949)
Gott wurde von den Religionen vereinnahmt und in ihren Dienst gespannt, denn im Namen Gottes, mit Moral-Predigten und Dogmen, können die Menschen eingeschüchtert und in ihrem Selbstwertgefühl so weit geknickt werden, daß sie in die Knie gezwungen werden und alles tun, was ihnen irgendwelche Führer diktieren. Gegen dieses Bollwerk manipulativer Macht im Namen von Gott rannte Nietzsche Sturm, Amok.
„Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“ (Abs. 4)
Der Versuch, eine Moral jenseits von Gut und Böse zu definieren, ist gefährlich, denn groß ist die Gefahr des Mißverständnisses. Die von der Gesellschaft anerkannten Wertgefühle zu hinterfragen bedeutet nicht, Wertgefühle abzuschaffen oder böse für gut zu erklären. Es geht Nietzsche um „eine neue Größe des Menschen … einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrößerung“, doch die gesellschaftlichen Normen des Kleinbürgertums hindern den Menschen an seiner Entwicklung:
„Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die große Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; alles, was den einzelnen über die Herde hinaushebt …, heißt von nun an BÖSE; die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmass der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren.“ (Abs. 201)
Diese gesellschaftlichen Norm-Begriffe von gut und böse will Nietzsche überwinden – und sie müssen überwunden werden. Aber die „hohe unabhängige Geistigkeit“ ist nicht ohne Abhängigkeit vom höchsten Unabhängigen („Gott“) möglich. Weil der Begriff „Gott“ jedoch völlig von der christlichen Angst-Religion vereinnahmt war, rannte Nietzsche auch gegen diese Bastion an. Wurde aus der „Froschperspektive“ #fn:2 der menschlichen Dualität verkündet „Gott lebt“, so mußte für Nietzsche gemäß der dialektischen Aufhebung der Gegensätze auch das Gegenteil wahr sein: „Gott ist tot.“ Doch welcher Gott ist tot?

„Gott ist tot“

„Gott ist tot“ ist wahrscheinlich das berühmteste Nietzsche-Zitat. Es findet sich im Buch Die fröhliche Wissenschaft. Diejenigen, die nur dieses eine Zitat kennen, staunen jeweils, wenn sie sehen, in welchem Zusammenhang dieser vermeintlich atheistische Ausspruch erscheint.

In der entsprechenden Stelle (Abs. 125) des Buches Die fröhliche Wissenschaft ist es ein „toller Mensch“, d. h. ein Verrückter (?), der „Gott ist tot“ ruft: ein
„toller Mensch …, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter … Der tolle Mann sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich. Wir alle sind seine Mörder!‘ … ‚Gott ist tot!‘ “
Es ist also ein fast zum Wahnsinn getriebener Wahrheitssucher, der ruft:
„… ‚Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? …‘ Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh‘, sagte er dann, ‚ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs …‘ Man erzählte noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: ‚Was sind denn die Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘ “
Gott ist tot und wurde in den Kirchen begraben! Für die gewöhnlichen Menschen auf dem Marktplatz ist es etwas völlig Selbstverständliches, nicht an Gott zu glauben. Der tolle Mensch [Nietzsche!] hingegen sucht nach Gott, aber mit lächerlichen Mitteln, und besucht Gott verzweifelt in seiner Gruft, den Kirchen, und wird abgeführt.

Auch die Reden des „Zarathustra“, paradoxe atheistische Weisheiten, stellt Nietzsche von allem Anfang an unter den Vor-Satz „Also begann Zarathustras Untergang“, und zwar im Sinne des Untergangs der Sonne (siehe Schluß von Abs. 1 und 10 der Vorrede).
„Das größte neuere Ereignis – daß ‚Gott tot ist‘ –, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist …“
Fröhliche Wissenschaft (Abs. 343)
„Wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, daß der ‚alte Gott tot‘ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei …“
Fröhliche Wissenschaft (Abs. 343)
Nietzsche gesteht seinen Atheismus ein, doch er relativiert ihn:
„Die neuere Philosophie, als eine erkenntnistheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös.“ (Abs. 54)
Er sieht sich deshalb sogar Sprachrohr für all jene,
„die ihr am großen Ekel leidet gleich mir, denen der alte Gott starb und noch kein neuer Gott in Wiegen und Windeln liegt“.
Also sprach Zarathustra IV („Lied der Schwermut“)
Fern davon, ein Gotteshasser zu sein, beklagt Nietzsche vielmehr die herrschende Gottferne – weil Gott von den Menschen ermordet wurde und in den Kirchen begraben liegt:
„Das Schlimmste ist: er [Gott] scheint unfähig, sich deutlich mitzuteilen: ist er unklar? – Dies ist es, was ich, als Ursachen für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe …“ (Abs. 53)
Die Frage „ist er unklar?“ ist eine ironische. Gott ist nicht unklar, und er scheint nur unfähig zu sein, sich mitzuteilen. In Tat und Wahrheit ist es der „europäische Theismus“, der die Unklarheit verursacht hat. Eben: Gott wurde „ermordet“. Nietzsche entlarvt prägnant den Haken im Gottesbild aller absolutistischen Religionen:
„Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott.“ (Abs. 67)
Eine heuchlerische „Liebe zu Gott“, d. h. die Liebe zum eigenen, dogmatisch und absolutistisch definierten Gott, geht auf Unkosten aller anderen. Jesus sprach von einer ganz anderen Liebe zu Gott, und Nietzsche ahnte das sehr wohl:
„Jesus sagte zu seinen Juden: ‚das Gesetz war für Knechte, – liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!‘ “ (Abs. 164)
In dieser gewagten Paraphrase der Lehren Jesu trifft Nietzsche eine transzendentale Kernwahrheit: In der Liebe zum allumfassenden (absoluten) Gott heben sich alle relativen Moralforderungen kleinbürgerlicher und pseudoreligiöser Normalität auf. Nietzsche erahnte dies richtig, vermochte es aber in seinem eigenen Leben nicht umzusetzen. Vielmehr beharrte er darauf, alles Relative in Frage zu stellen, ohne das Absolute zu kennen. Nietzsches Philosophie ist ein konstantes Infragestellen; nur das Infragestellen des Infragestellens entging ihm, und so blieb auch er im Relativen stecken, wie all diejenigen, die er kritisierte:
„Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken … Ja! und Nein! – das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa indem er mit Montaigne spricht: ‚Was weiß ich?‘ Oder mit Sokrates: ‚Ich weiß, daß ich nichts weiß.‘ Oder: ‚Hier traue ich mich nicht, hier steht mir keine Tür offen.‘ Oder: ‚Gesetzt, sie stünde offen, warum gleich eintreten?‘ Oder: ‚Was nützen alle vorschnellen Hypothesen? … Auch das Ungewisse hat seine Reize …‘ – Also tröstet sich der Skeptiker; und es ist wahr, daß er einigen Trost nötig hat.“ (Abs. 208)
Doch Nietzsche gönnte sich in absoluter Konsequenz diesen Trost der Skepsis nicht. Er fährt fort:
„Skepsis ist nämlich der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Geschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt …“ (Abs. 208)
Und dieser „Nervenschwäche und Kränklichkeit“ erlag Nietzsche selbst, jedoch nicht als Strafe Gottes für den „Antichrist“, wie einige Christen (schadenfreudig?) glauben, sondern als Gnade Gottes, der diesem verzweifelten Sucher entgegenkam, um den grauen Vorhang zu lichten – in Vorbereitung auf das nächste Leben:
Nun lacht die Welt, der graue Vorhang riß,
Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis. #fn:3
„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.“

Nietzsche ist in seinem Kern Gott und den Göttern nicht wirklich abgewandt, er will sich einfach nicht mit unvollkommenen Gott- und Götteroffenbarungen zufriedengeben. Er kennt jedoch nichts anderes und findet in seinem christlichen Umfeld des späten 19. Jahrhunderts auch nichts anderes, ja er sieht mit unheimlicher Sicherheit das Kommen großer Kriege voraus. So konstatiert er konsequent und kompromißlos die Lage des Menschen – gott-los, sinn-los – und will deshalb mit allen Gott- und Sinn-Bildern aufräumen, um in dieser neuen Freiheit einen neuen Sinn und einen neuen Menschen, den „Übermenschen“, zu finden - den Menschen, der sich selbst überwindet und alle Lügen der Gesellschaft überwindet, sich von ihnen lossagt.
„Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? … Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.“
Also sprach Zarathustra (Zarathustras Vorrede, Abs. 3 und 7)
Nietzsches Ringen um die transzendentalen Erkenntnisse jenseits von Gut und Böse ist auch für den modernen Menschen ein eindrückliches Beispiel und eine Aufforderung, mit den „Irrthümlichkeiten der Welt“ keine Kompromisse zu machen und sich nicht auf Halbwahrheiten zu beschränken.

Aus der Sicht der vedischen Gottesoffenbarung, die im tanzenden Gottespaar Rādhā-Kṛṣṇa #fn:4 gipfelt, gehört Friedrich Nietzsches persönliches Glaubensbekenntnis ebenfalls zu einem Gipfel der abendländischen Gottessuche und Gottesahnung:
„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.“
Also sprach Zarathustra, I, („Vom Lesen und Schreiben“)
Zusammenfassung

Diese Exkursion in die abendländische Philosophie führt zu drei Erkenntnissen:
  • daß es notwendig ist, mutig über das gesellschaftliche Mittelmaß hinauszutreten;
  • daß das Infragestellen alles Relativen notwendig ist, daß deshalb auch das Infragestellen des Infragestellens notwendig ist und daß man irgendwann zu einem Punkt der Erkenntnis kommen muß, wo man Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden fähig ist;
  • daß die Aufhebung des Gegensatzes Gut und Böse – die „Hochzeit für Licht und Finsternis“ – nur in der Transzendenz möglich ist, daß aber das herkömmliche Gottesverständnis nicht ausreicht, um ein umfassendes Verständnis von „jenseits von Gut und Böse“ zu bekommen. Nietzsches radikal-wahre Gotteslogik: Wenn es Gott gibt, müßte er allmächtig sein und zu allem fähig sein, auch zum Tanzen. Deshalb: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.“

Jenseits von Gut und Böse – Nachgesang

Ein andrer ward ich? Und mir selber fremd?
Mir selbst entsprungen?
Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?
Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,
Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?

Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
Ich lernte wohnen,
Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht? …

Jenseits von Gut und Böse (Nachgesang)
Nicht verwendete Zitate
„Denn der entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst (oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft) zerreißt und zerfleischt, mag zwar, moralisch gerechnet, höher stehn als der lachende und selbstzufriedne Satyr, in jedem anderen Sinn aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall. Und niemand lügt so viel als der Entrüstete.“ (aus Abs. 26)
„Ein Philosoph: ach, ein Wesen, das oft von sich davonläuft, oft vor sich Furcht hat, – aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder ‚zu sich zu kommen‘.“ (aus Abs. 292)
„Niemand wird so leicht eine Lehre, bloß weil sie glücklich macht, oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten … Glück und Tugend sind keine Argumente. Man vergißt aber gerne, auch auf seiten besonnener Geister, daß Unglücklich-machen und Böse-machen ebensowenig Gegenargumente sind. …“ (Paragraph 39)
„Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was einer mit seinem Blute schreibt. […] Es ist nicht leicht möglich, fremdes Blut zu verstehen: ich hasse die lesenden Müssiggänger.“
Also sprach Zarathustra I (Vom Lesen und Schreiben)
„Das Wort schon ‚Christentum‘ ist ein Mißverständnis –, im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. […] bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie Der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich … Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar notwendig: das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein … Nicht ein Glauben, sondern ein Tun, ein Vieles-nicht-tun vor allem, ein anderes Sein …“
Der Antichrist (Abs. 39)
„Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns – zu verbrennen.“ (Abs. 104)
„Erst das Christentum hat den Teufel an die Wand der Welt gemalt.“
Menschliches, Allzumenschliches II (2.78)
„Nur Narr! Nur Dichter!
Nur Buntes redend,
Aus Narrenlarven bunt herausschreiend,
Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken,
Auf bunten Regenbogen,
Zwischen falschen Himmeln
Und falschen Erden,
Herumschweifend, herumschwebend, –
Nur Narr! Nur Dichter!“

Also sprach Zarathustra IV („Lied der Schwermut“)
„Wollen Menschen der Art trotz alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren halten – ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können.“
Morgenröte 451
Sklaven-Moral
z. B. Zur Genealogie der Moral I (Abs. 10)
blonde Bestie
Genealogie (Abs. 11)
  1. Alle folgenden Nietzsche-Zitate, falls nichts anderes vermerkt, stammen aus Jenseits von Gut und Böse.
  2. „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werte. Es ist auch den Vorsichtigen unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am nötigsten war … Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt gibt, und zweitens, ob jene volkstümlichen Wertschätzungen und Wert-Gegensätze … nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von unten hinauf, Froschperspektiven gleichsam …“ (Abs. 2)
  3. Die letzten Zeilen im Buch Jenseits von Gut und Böse.
  4. Rādhā-Kṛṣṇa: Gott als lebendige Liebe, als Einheit der Zweiheit, als Einheit „Geliebter und Liebende“ bzw. „Liebender und Geliebte“; ein zentrales Thema der indischen Religion ist der Rāsa-Tanz von Rādhā und Kṛṣṇa, ebenso der kosmische Tanz von Śiva.

Neues Buch von Armin Risi