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Armin Risi
Philosoph • Autor • Referent
Radikal umdenken – neue Wege und Weltbilder

Hölderlin und die Reinkarnation

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Das Absolute und das Relative
Palingenesie
Reinkarnation
Reinkarnationstexte, die Hölderlin kannte: Antike
Reinkarnationstexte, die Hölderlin kannte: Deutschland
Hölderlins frühere Leben


Einer der wichtigsten Inhalte des Wortes aus dem Osten, dessen Wiederkunft Hölderlin voraussah und als dessen vorausgeschickter „heiliger Priester“ er sich berufen fühlte, ist die Reinkarnationslehre. Die meisten Hölderlin-Forscher waren sich bisher weder in ihrem eigenen Leben noch in bezug auf Hölderlins Leben dieser Perspektive bewußt. Erweitern wir unseren Horizont jedoch um diese Dimension, wird auch vieles in Hölderlins Leben und Werk klarer und lehrreicher.

Das Absolute und das Relative

Hölderlin spricht von Gott und den Göttern, den Himmlischen, aber nicht im absolutistischen Sinn des Christentums. Gott ist für Hölderlin mehr als nur ein eifersüchtiger Bestrafer, der gegen die Sünder und gegen die Götter wettert, so wie es «Gott» im Alten Testament tut.

Gott und die Götter sind nicht zu trennen, denn sie bilden eine Einheit. Manchmal erschei-nen die Himmlischen persönlich und manchmal die von ihnen gesandten Meister, Engel oder Seher:

Viel hab’ ich dein
Und deines Sohnes wegen
Gelitten, o Madonna,
Seit ich gehöret von ihm
In süßer Jugend;
Denn nicht der Seher allein,
Es stehen unter einem Schicksal
Die Dienenden auch.
(aus: An die Madonna)

Gott, die Gesandten Gottes und deren Diener bilden eine Einheit, und es verbindet sie ein Schicksal, das auf Erden oft mit Leid verbunden ist. Aber Hölderlin weiß, daß Gott, der Höchste, „ungebunden“ (absolut) ist. Nichts ist von Gott getrennt, und deshalb fühlen auch die Menschen, die ihre Verbindung mit Gott vergessen haben, immer eine Sehnsucht nach dem Absoluten, dem „Ungebundenen“:

… Und immer
Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist
Zu behalten. Und not die Treue.
(aus: Mnemosyne, Dritte Fassung)

Obwohl die Menschen in einer Nacht der Gottvergessenheit leben und nur noch das Relative sehen, geht immer eine verborgene innere Sehnsucht hin zum „Ungebundenen“, denn solange das Relative nicht seine Verbindung (lat. religio; sanskr. yoga) mit dem Absoluten findet, ist es nicht vollständig. Diese Sehnsucht darf jedoch nicht zu einer einseitigen Verneinung der Welt führen, denn auch die Welt mit ihrer Vielfalt gehört zu Gottes absoluter Einheit. Gott – und nicht ein Teufel – ist der Herr der Welt. Gott umfaßt alles, auch die Welt, und deshalb betont Hölderlin weise: „Vieles aber ist /Zu behalten.“ Trotz der Sehnsucht nach dem Absoluten darf die Welt nicht verteufelt werden. Der Mensch soll in der Welt nicht zu Grunde gehen, sondern der Welt auf den Grund gehen, erkennen, was der Ursprung ist.

Hölderlins Aussage ist aber auch auf eine versteckte Weise radikal: Vieles – aber nicht alles – ist zu behalten! Vieles muß über Bord geworfen werden, nämlich all das, was unsere Verbindung zum Ungebundenen hindert. Und deshalb ist „not die Treue“. Obwohl vieles zu behalten ist, muß der Mensch der ursprünglichen Sehnsucht treu bleiben. Allzugern verliert man sich wieder im Relativen und gibt sich mit einer bequemen, angenehmen Stellung innerhalb der gottvergessenden Gesellschaft zufrieden. Hölderlin mußte persönlich sehen, wie viele vielversprechende Geister in diese Falle traten: seine Jugendfreunde Hegel und Schelling, Schiller, von dem Hölderlin (zu) viel des Revolutionären erwartet hatte, sie alle gliederten sich in die Gesellschaft ein und ließen sich adeln.

Bitter drückt sich Hölderlin in seinem berühmten Deutschland-Brief aus: „Voll Lieb’ und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später [nach der Universitätszeit], und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäte, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht …“ (aus: Hyperion II.2, zweitletzter Brief an Bellarmin)

„Und not [notwendig ist] die Treue.“ Allerdings wußte Hölderlin, daß die Zeit für den konkreten Umbruch noch nicht reif war, und das machte seine Sehnsucht noch zwiespältiger. (Erst in der zweiten Hälfte seines Lebens fand er durch höhere Fügung eine gewisse innere und äußere Ruhe.)

Einen ähnlichen Gedanken wie im Satz „Vieles aber ist zu behalten“ drückt Hölderlin im Schlußsatz der Hymne „Der Einzige“ (Erste Fassung) aus:

Die Dichter müssen auch
Die geistigen weltlich sein.


Mit dieser ungewöhnlichen Formulierung erreicht Hölderlin die auffällige Schlußstellung der Wörter geistig – weltlich – sein: Zum Sein gehört beides, das Geistige wie das Weltliche. Das Weltliche darf nicht verneint werden, denn es gehört genauso zum Göttlichen; ja das Weltliche (das Geschöpfte, Materielle) wird immer wieder Kulisse für das Erscheinen von Gott und Gottes Gesandten (was in der zitierten Hymne das explizite Thema ist). In einer späteren Überarbeitung dieser Hymne formuliert Hölderlin die Erkenntnis der vielgesichtigen Allgegenwart Gottes noch deutlicher:

… mit Gewalt
Des Tages oder
Mit Stimmen erscheinet Gott als
Natur von außen. Mittelbar
In heiligen Schriften. Himmlische sind
Und Menschen auf Erden beieinander die ganze Zeit.

Diejenigen, die aufrichtig suchen, finden immer ein mittelbares oder unmittelbares Zeichen Gottes: Die Himmlischen sind sowieso „die ganze Zeit“ beim Menschen; die Menschen, die sich so gerne für unbeobachtet halten, sind also nie allein und schon gar nicht unbeobachtet. Gott äußert sich immer durch die Schriften und erscheint manchmal sogar „von außen“ in Form von „Stimmen“ oder mit jener umwälzenden „Gewalt“, mit der ein neuer Tag beginnt.

Gottes Hand ist immer gegenwärtig, nur muß der Mensch sie ergreifen. Erst wenn die vom Relativen verblendeten Menschen wieder am Absoluten „Teil nehmen“ und erst wenn die „Unangebundenen“ sich mit dem „Ungebundenen“ verbinden, findet ihr gott-loses „Sein“ zum glücklichen Ziel.

Die Titanen

Nicht ist es aber
Die Zeit. Noch sind sie
Unangebunden. Göttliches trifft Unteilnehmende nicht.
Dann mögen sie rechnen
Mit Delphi. Indessen, gib

                             in Feierstunden
Und daß ich ruhen möge, der Toten
Zu denken. Viele sind gestorben,
Feldherren in alter Zeit
Und schöne Frauen und Dichter
Und in neuer
Der Männer viel,
Ich aber bin allein. …

Du seiest so allein in der schönen Welt,
    Behauptest du mir immer, Geliebter! Das
       Weißt aber du nicht,

Dies ist die letzte, unvermittelt abgebrochene Strophe einer der wenigen überlieferten Oden aus Hölderlins Zeit im Turmzimmer. Dieses Gedicht ist einzigartig, weil sich Hölderlin darin zum ersten Mal nach Susette Gontards, Diotimas, Tod im Jahr 1802 wieder schriftlich über ihre Beziehung äußert, ohne jedoch ihren Namen zu nennen. Einzigartig in Hölderlins Werk ist auch der Ausdruck dieses Gedichtes: Es spricht nicht Hölderlin, sondern Diotima – aus dem Jenseits:

Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind,
   Ich dir noch kennbar bin, die Vergangenheit,
       O du Teilhaber meiner Leiden!

Du seiest so allein in der schönen Welt,
   Behauptest du mir immer, Geliebter! Das
       Weißt aber du nicht,

Was weiß Hölderlin nicht, was Diotima im Jenseits weiß? Etwa, daß alle Lebewesen unsterblich sind? Und daß sie sich wieder, neu inkarniert, begegnen werden?

Hölderlin war sich der Palingenesie (Reinkarnation) sehr wohl bewußt. Der Kreislauf der vielen Leben und Lektionen ist wahrhaftig die Bühne, auf der die Individuen ihren Reifungsweg durch das Titanische und Relative zur Vollendung bringen können.

Vielleicht wußte Diotima, daß sie sich in einem nächsten Leben, gereift, wieder begegnen werden. Es wäre denkbar, daß Hölderlin Diotima diesen hoffnungsvollen Gedanken zusprach, aber nicht wagte, ihn niederzuschreiben.


Palingenesie

Als Friedrich Hölderlin in Frankfurt bei der Familie Gontard wohnte, schrieb er an seinen Bruder in Nürtingen, er möge ihm zwei seiner Gedichtbände zukommen lassen. Einer der beiden Bände war der „Musenalmanach fürs Jahr 1792“, in dem auch vier Gedichte von Hölderlin abgedruckt waren. Auf der Seite mit den ersten vier Strophen seiner „Hymne an die Freiheit“ schrieb Hölderlin mit Bleistift einen Gedichtentwurf, den er jedoch nie weiter ausführte. Über einhundert Jahre nach der Niederschrift wurde dieser Entwurf, verborgen in Hölderlins persönlichem Exemplar des Musenalmanachs, entdeckt. Es war ein sehr wichtiger Fund: Der Entwurf trägt die Überschrift „Palingenesie“, das griechische Wort für Wiedergeburt!

Palingenesie.

Mit der Sonne sehn’ ich mich
oft vom Aufgang bis zum
Niedergang den weiten Bogen schnellhineilend zu wandeln,

Oft, mit Gesang zu folgen dem großen,
dem Vollendungsgange der alten Natur,
Und, wie der Feldherr auf dem Helme
den Adler trägt in Kampf und Triumph,
so möcht ich, daß sie mich trüge

Mächtig [ist] das Sehnen der Sterblichen.
Aber es wohnet auch ein Gott in dem Menschen
daß er Vergangenes und Zukünftiges sieht, und
wie vom Strome ins Gebirg hinauf an die Quelle
lustwandelt er durch Zeiten

Aus ihrer Taten stillem Buch ist
Vergangenem bekannt er durch - -
die goldenes beut


Der Begriff der Palingenesie stammt ursprünglich aus der Stoischen Kosmologie, wo er die Wiederherstellung der Welt nach einem Weltbrand bezeichnet. Seit der Spätantike wird Palingenesie jedoch mit dem pythagoräischen Begriff der Reinkarnation (Metempsychose) gleichgesetzt.

Im Jahre 1797 veröffentlichte Johann Gottfried Herder den Aufsatz „Palingenesie. Vom Wiederkommen der menschlichen Seelen“, in dem Herder auch die moralische Bedeutung der Reinkarnationslehre erörterte. Schon öfters hatte Herder versucht, den deutschen Lesern die Reinkarnation plausibel zu machen, unter anderem im Aufsatz „Tithon und Aurora“ (1792), in dem er unmißverständlich schrieb:

„Der alte Mensch in uns soll sterben, damit eine neue Jugend emporkeime. ‚Wie aber soll das zugehen? Kann der Mensch in seiner Mutter Leib zurückgehen und geboren werden?‘ Auf diesen Zweifel des alten Nikodemus kann keine andre Antwort gegeben werden, als ‚Palingenesie‘! Nicht Revolution, aber eine glückliche Evolution der in uns schlummernden, uns neu-verjüngenden Kräfte.

Hölderlin hat diese Veröffentlichung gekannt und war von ihr so sehr beeindruckt, daß er in einem Brief an seinen besten Freund, Christian Neuffer, eine längere Passage abschrieb, und zwar genau jene, die an die oben zitierte anschließt: „ ‚Was wir Überleben unsrer selbst #fn:1 nennen, ist bei bessern Seelen nur Schlummer zu neuem Erwachen, eine Abspannung des Bogens zu neuem Gebrauche. So ruhet der Acker, damit er desto reicher trage: so erstirbt der Baum im Winter, damit er im Frühlinge neu sprosse und treibe. Den Guten verlässet das Schicksal nicht, so lange er sich nicht selbst verläßt, und unrühmlich an sich verzweifelt. Der Genius, der von ihm gewichen schien, kehrt zu rechter Zeit zurück und mit ihm neue Tätigkeit, Glück und Freude. Oft ist ein Freund ein solcher Genius!‘ “ (Brief an Neuffer, 10./14. Juli 1794)

Friedrich Beißner, einer der Wiederentdecker Hölderlins, schreibt über dessen Bezug zu Herders Palingenesie-Texte: „Hölderlin geht in der Umdeutung der Lehre von der Palingenesie noch weiter über Herder, indem er nicht nur ihre moralische Schrecknis, die im ‚Brahmen- und Pfaffensinn‘ ihr ganzes Wesen ausmacht, ganz beiseite läßt, sondern indem er von der persönlichen Einzelseele und deren Zuständen überhaupt absieht. Er erweitert den Bereich des persönlichen Lebens und Erlebens nicht über das Ende – das kann nur Sehnen bleiben und Schwärmerei –, sondern über seinen Anfang, über die Geburt hinaus in die nicht selbst erlebte Vergangenheit. Das Wissen um Vergangenes, die Möglichkeit, Vergangenes zu sehen, bedeutet ihm eine Palingenesie der Vergangenheit. Der Mensch, dem die Geschichtsschreibung … Goldenes beut, lustwandelt ja durch die Zeiten.“ #fn:2

Gelehrte, denen die Perspektive der Reinkarnation fremd ist, sind versucht, in Hölderlins Palingenesie-Entwurf nur eine „Palingenesie der Vergangenheit“ zu sehen: In der Geschichtsschreibung oder auch in der Erinnerung werde das Vergangene wiedergeboren.

Das ist eine mögliche, aber eher aufgestülpte Interpretation. Sie findet höchstens in den letzten Zeilen des Entwurfes Halt:

… wie vom Strome ins Gebirg hinauf an die Quelle
lustwandelt er durch Zeiten

Aus ihrer Taten stillem Buch ist
Vergangenem bekannt er durch - -
die goldenes beut


Paraphrasiert besagen diese Zeilen: Der Mensch hat die Möglichkeit, der Strömung eines Flusses entgegen zur Quelle im Gebirge hinaufzusteigen, und ebenso hat der Mensch die Möglichkeit, der Strömung des Zeitflusses entgegen in die Vergangenheit zu gehen. Auf diese Weise vermag der Mensch durch die Zeiten zu lustwandeln.

Bis hierher entspricht die Aussage tatsächlich einer Palingenesie der Vergangenheit. Doch schon die nächsten Zeilen erweitern die Bedeutung weit über diese Interpretation hinaus. Paraphrase: Indem der Mensch gegen die Strömung des Zeitflusses geht, lustwandelt er durch die Zeiten. Es gibt ein stilles Buch, das die Taten der Zeiten enthält, und aus diesem „ihrer Taten stillem Buch ist Vergangenem er bekannt“.

Hölderlin sagt hier nicht, daß durch dieses stille Buch dem Menschen das Vergangene bekannt ist, sondern daß er dem Vergangenen bekannt ist. Der Mensch ist dem Vergangenen bekannt, weil er in jenen Zeiten des Vergangenen ebenfalls schon gegenwärtig gewesen war, nämlich in einer früheren Verkörperung. Damit sind wir wieder bei der Palingenesie (Reinkarnation). Daß Palingenesie auch Reinkarnation bedeuten kann und daß Hölderlin den Begriff Palingenesie ebenfalls mit der Reinkarnationslehre verband, wurde bereits durch die oben angeführte Verbindung mit Herders Palingenesie-Texten nachgewiesen.

Hölderlins Entwurf ist eine Synthese der stoischen Lehre der zyklischen „Naturerneuerung“ (Palingenesie) und der pythagoräischen Lehre der Reinkarnation, des Kreislaufes von Geburt und Tod im Strom der Zeiten. Dementsprechend häufen sich in diesem kurzen Text die Bilder, die Kreisläufe symbolisieren: Sonne – Aufgang, Niedergang; Bogen – Vollendungsgang; Vergangenes – Zukünftiges; Strom – Quelle.

„Mächtig [ist] das Sehnen der Sterblichen“, denn sie möchten Vergangenes und Zukünftiges sehen, da sie als unsterbliche Seele Teil davon waren und sein werden. „Aber es wohnt auch ein Gott in dem Menschen“. „Auch“: nicht nur das Sehnen wohnt im Menschen, sondern auch ein Gott, „daß [damit] er [der Mensch] Vergangenes und Zukünftiges sieht …“ Warum? „[Um] mit Gesang zu folgen dem großen, dem Vollendungsgange der alten Natur.“ Die Natur ist „alt“, weil sie eine lange Vergangenheit hinter sich hat und sich in einem „Vollendungsgang“ befindet, dem der Mensch folgen sollte zu persönlicher Vollendung.

Mit der Hilfe Gottes, der im Menschen wohnt, ist es dem Menschen möglich, Vergangenes und Zukünftiges (nicht nur das Vergangene!) zu sehen, um so durch die Zeiten zu lustwandeln. Wie? „Wie vom Strom ins Gebirg hinauf an die Quelle.“ Wie gelangt das Wasser vom flachen Land wieder hinauf ins Gebirge? Durch Verdunstung, das heißt Vergeistigung. Auf diese Weise wird es dem Menschen möglich, durch die Zeiten zu lustwandeln; dann bereitet die Dualität des Vergangenen und Zukünftigen dem Herzen keinen Schmerz mehr, das sonst von Klagen (um das Vergangene) und Sehnen (nach dem Ausstehenden) verzehrt wird.

„Aus ihrer Taten stillem Buch [d. h. durch das Zeugnis Gottes, der im Innern eines jeden weilt, und durch das Zeugnis der gedächtnisbewahrenden „alten Natur“] ist Vergangenem er bekannt durch - -, die goldenes beut …“

An den „Taten“ der vergangenen und künftigen Zeiten hat der Mensch Anteil als wandernde Seele. Verkörpert als Mensch, sollte sie Gott in sich erkennen und so „Vergangenes und Zukünftiges“ im richtigen Licht sehen lernen, damit der „Strom“ des Lebens „hinauf an die Quelle“ gerichtet werden kann. Dadurch gelangt der Mensch zu einer heiligen Einsicht der Ewigkeit, die „goldenes beut [verspricht, ankündet]“. „Beut“ heißt hier nicht „gebeut“ im Sinne von „gebieten, befehlen“, sondern entspricht dem althochdeutschen Wort für „bieten“, das auch in der Wurzel des Wortes „Bote“ zu finden ist.

Hiermit schließt sich der Bogen des Gedichtes. Durch „den weiten Bogen“ der Sonne, durch die „alte Natur“ und die „Zeiten“ „ist Vergangenem er bekannt durch - -, die goldenes beut.“ Wodurch ist der Mensch dem Vergangenen bekannt? Das Relativpronomen verrät, daß Hölderlin hier ein konkretes feminines Wort im Kopf hatte, das er aus irgendwelchen Gründen jedoch nicht niederschrieb. Betrachten wir noch einmal den Gedankengang dieses Entwurfes, und dann wird sich die Auswahl der in Frage kommenden femininen Wörter überraschend verengen.

Der Mensch erkennt, wie Gott, der in ihm wohnt, schon immer sein Begleiter war und ihn lenkte, so wie Er auch die Sonne und den Strom lenkt. In diesem Sinne möchte Hölderlin dem „großen Vollendungsgange der alten Natur“ folgen und hofft, daß sie (die Natur) ihn trüge, so „wie der Feldherr auf dem Helme den Adler trägt in Kampf und Triumph“. Dieses etwas ausgefallene Bild wurde ziemlich sicher durch die erste Strophe der „Hymne an die Freiheit“ angeregt, die ja durch diesen Entwurf umrahmt wird:

Wie den Aar [Adler] in grauem Felsenhange
Wildes Sehnen zu der Sterne Bahn,
Flammt zu majestätischem Gesange
Meiner Freuden Ungestüm mich an;


Hier sehen wir auch, welch weitgehende Assoziationen dieses Jugendgedicht in Hölderlin auslöste, als er es nach einigen Jahren wieder las. Wie den Adler das wilde Sehnen hin zur Bahn der Sterne anflammt, so sehnt sich Hölderlin, „mit der Sonne … vom Aufgang bis zum Niedergang den weiten Bogen schnell hineilend zu wandeln“ und konkret „mit Gesang zu folgen dem großen, dem Vollendungsgange der alten Natur“, getragen von der Natur wie der Adler auf dem Helm eines siegreichen Feldherrn. In verschiedenen Generationen werden verschiedene Feldherren siegreich und wechseln sich ab, indem die jüngeren den älteren oder verstorbenen nachfolgen; auf diese Weise wandert der Helm von Kopf zu Kopf, bleibt jedoch immer derselbe, und der Adler ist immer dort, wo der Sieger ist. Ebenso wandert die Seele von Körper zu Körper, bleibt immer dieselbe Seele und ist immer dort, wo das Leben ist. Eine eindrückliche Metapher für die Palingenesie (Seelenwanderung)!

„Mächtig [ist] das Sehnen der Sterblichen“, aber dieses aufgewühlte Sehnen kann überwunden werden, wenn man das Vergangene und Zukünftige im richtigen Licht sieht, mit der Sicht der Palingenesie! Um diese Sicht zu erlangen, muß der Mensch lernen, das stille Buch der Zeiten richtig zu lesen: „Aus ihrer Taten stillem Buch ist Vergangenem bekannt er durch [die Palingenesie!], die goldenes beut.“

Palingenesie könnte sehr wohl das omittierte feminine Wort sein, das Hölderlin in seiner Notiz nicht niederschrieb, weil es bereits im Titel steht und weil er bestimmt den Gedankengang noch verfeinern wollte, um den symbolischen Titel nicht wieder im Text aufgreifen zu müssen.

Unter der Führung der Sonne, der alten Natur und des Gottes, der im Menschen wohnt, blickt der Mensch in seinem Vollendungsgange einer Wiedergeburt im kommenden Zeitalter entgegen. So bietet der Reinkarnationsgedanke Hölderlin großen Trost, weil er hoffen darf, im neuen, goldenen Tag wiedergeboren zu werden, denn er hat mittlerweile eingesehen und sich selbst eingestanden, daß dieser Tag nicht mehr während seiner Lebenszeit beginnen würde.

Damit wird der Titel „Palingenesie“ zum Schlüssel des Gedichtes. Den bisherigen Interpreten dieses Fragmentes scheinen diese Zusammenhänge entgangen zu sein. „Palingenesie bedeutet in der Lehre von der Seelenwanderung soviel wie ‚Wiederverkörperung‘; doch läßt das Bruchstück kaum etwas zu diesem Thema erkennen.“ #fn:3


Reinkarnation

Wird Hölderlins Werk durch „Visionen“ oder vielmehr durch Erinnerungen bereichert? Hölderlin wußte, daß nicht nur die historische Entwicklung in Zyklen verläuft, sondern auch die individuelle. Das gegenwärtige Erdenleben des Menschen ist nicht sein einziges. Das Leben ist nicht auf den jetzigen vergänglichen Körper beschränkt, denn das wahre Selbst ist unsterblich. Beim Tod geht nur der Körper in Flammen auf; die unsterbliche Seele hingegen setzt ihre Wanderung fort, bis sie erwacht und dorthin zurückfindet, von wo sie ausgegangen ist:

Was schläfst und träumst du, Jüngling, gehüllt in dich,
   Und säumst am kalten Ufer, Geduldiger,
        Und achtest nicht des Ursprungs, du, des
            Oceans Sohn …

Der Zauderer …
    … aber wandelt hin zu Unsterblichen;
        Denn nirgend darf er bleiben, als wo
            Ihn in die Arme der Vater aufnimmt.

               (aus: Der gefesselte Strom)

Hölderlin wurde schon früh mit dem Tod konfrontiert. Als zweijähriger Knabe verlor er seinen Vater und mit neun Jahren seinen Stiefvater. Bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr hatte er von sechs Geschwistern vier verloren (drei Schwestern und einen Bruder).

Die Auseinandersetzung mit dem Sterben taucht in Hölderlins Briefen und Werken immer wieder auf. So wurde er auch mit der Reinkarnationslehre bekannt: nicht nur durch Herder, sondern auch durch die Griechen – Pythagoras, Sokrates, Platon, Empedokles – und durch die Schriften Gotthold Ephraim Lessings, der sich ebenfalls offen zur Reinkarnationslehre als dem „ältesten … und wahrscheinlichsten aller philosophischen Systeme“ bekannte („Daß es mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können“, 1788; „Erziehung des Menschengeschlechts“, 1780). #fn:4

Auch in Hölderlins Werk klingt an vielen Stellen das Wissen um die Seele an, die als ewiger Keim immer wieder neue Körper annimmt; die sich so schon in Tausenden von Geschöpfen verkörpert hat:

O, … die du aus Gottes Hand
   Erhaben über tausend Geschöpfe gingst,
       In deiner Klarheit dich zu denken,
           Wenn du zu Gott dich erhebst, o Seele! …

[Gottes] Wort ist ewig, wie sein Name,
   Ewig ist, ewig des Menschen Seele. …
(aus: Die Unsterblichkeit der Seele. 1788)

Röschen! unser Schmuck veraltet,
Stürm’ entblättern dich und mich,
Doch der ewge Keim entfaltet
Bald zu neuer Blüte sich.
(aus: An eine Rose)

Heilge Natur, …
Wenn ich altre dereinst, siehe so geb ich dir,
    Die mich täglich verjüngt, Allesverwandelnde,
        Deiner Flamme die Schlacken,
            Und ein anderer leb ich auf.
(aus: Ihre Genesung, Zweite Fassung)

Ein bekannter griechischer Vertreter der Reinkarnationslehre war Empedokles (483 – 423 v. Chr.), ein Dichter, Arzt und Naturphilosoph in der Linie des Pythagoras. Empedokles errang aufgrund seines entsagungsvollen Lebens, seiner Fähigkeiten als Arzt und seiner Leistungen als politischer Berater bereits zu Lebzeiten eine große Popularität. In seinen überlieferten Fragmenten heißt es beispielsweise: „Denn ich wurde bereits einmal Knabe, Mädchen, Pflanze, Vogel und flutenuntertauchender Fisch.“ „Es gibt kein Entstehen aus nichts, kein Vergehen in nichts.“ (zitiert in: Zürrer, Reinkarnation, S. 141)
Reinkarnationstexte, die Hölderlin kannte: Antike

Platon: Phaidon (Dieses Buch ist gänzlich der Unsterblichkeit der Seele und deren Wanderung durch verschiedene Körper gewidmet. Es ist das zentrale Werk Platons, denn es enthält die letzten Lehren des Sokrates, bevor dieser gemäß athenischem Todesurteil den Giftbecher leertrank.)

„Sokrates sprach: ‚Bedeutet Tod etwas anderes als die Trennung der Seele vom Körper? Bedeutet sterben, daß der Körper, getrennt von der Seele, allein zurückbleibt und daß die Seele, getrennt vom Körper, allein [ohne Körper] weitergeht? Ist der Tod etwas anderes als dieses?‘ ‚Nein! Mit dem Sterben verhält es sich genauso, wie du beschrieben hast‘, entgegnete Simmias. ‚Nun überlege gut, mein Simmias‘, sprach Sokrates, ‚damit wir das, wonach wir fragen, besser verstehen können. Glaubst du, daß es sich für einen wahrheitssuchenden Menschen geziemt, sich um die Lüste des Körpers, wie Essen und Trinken, zu bemühen?‘ ‚Nichts weniger als das, o Sokrates‘, antwortete Simmias. ‚Oder um die Geschlechtstriebe?‘ ‚Ebensowenig.‘ […] ‚Denkst du also, daß sich ein wahrheitssuchender Mensch nicht für körperliche Beschäftigungen interessiert, sondern sich soviel nur möglich von diesen loslöst und sich der Seele zuwendet?‘ ‚Natürlich!‘ ‚Also hierin unterscheidet sich ein wahrheitssuchender Mensch von den übrigen Menschen: daß er sich von der Identifikation mit dem Körper loslöst?‘ ‚Genau!‘ ‚Und dennoch denken die meisten Menschen, o Simmias, daß jemand, dem diese Dinge nicht lieb sind und der nicht an diesen Angelegenheiten teilnimmt, das wichtigste verpasse. Sein Leben lohne sich nicht. Wer sich nicht um die angenehmen Empfindungen kümmere, die vom Leib kommen, sei schon so gut wie tot.‘ ‚O Sokrates‘, sprach Simmias, ‚es ist genauso, wie du sagst.‘ “ (9. Kapitel)

„ ‚O Kebes‘, sprach Sokrates, ‚ich bin überzeugt, und ich denke nicht, daß wir hier einem Irrtum anheimgefallen sind. Tatsächlich verhält es sich so: Es gibt ein Weiterleben nach dem Tod, die Lebenden kommen aus dem Bereich der Toten, und die Seelen der Verstorbenen existieren weiter.‘ “ (18. Kapitel)

„ ‚Wenn wir im letzten Leben bereits Erkenntnis besaßen und sie bei der Geburt wieder verloren, wenn wir aber durch den Gebrauch unserer Sinne jene Erkenntnisse, die wir einst besaßen, wieder aufnehmen, kann man dann nicht sagen, daß das, was wir Lernen heißen, das Wiederaufnehmen einer uns schon angehörigen Erkenntnis ist? Wäre Lernen dann nichts anderes als ein Wiedererinnern?‘ ‚Genau, so ist es, o Sokrates‘, sprach Simmias.“ (20. Kapitel)

„Erinnern wir uns an diese Unterweisung, und so werden wir gut über den Fluß der Lethe hinüberkommen und unsere Seele nicht beflecken. Wenn wir – gemäß meiner Lehre – überzeugt sind, daß die Seele unsterblich ist und die Kraft hat, alles Übel und alles Gute, das sie trifft, zu überdauern, werden wir immer auf dem Weg nach oben festhalten […], damit wir uns selbst und den Göttern lieb seien.“ (Der berühmte Schlußabschnitt des anderen Hauptwerkes von Platon, Politea, „Der Staat“)

Nimmer vergehet die Seele, vielmehr die frühere Wohnung
Vertauscht sie mit neuem Sitz und lebt und wirket in diesem.
Alles wechselt, doch nichts geht unter.
Pythagoras, in: Metamorphosen (Ovid)
Reinkarnationstexte, die Hölderlin kannte: Deutschland

Friedrich Schiller (1759 – 1805):

Das Geheimnis der Reminiszenz (An Laura. 1782)

Waren unsre Wesen schon verflochten?
War es darum, daß die Herzen pochten?
Waren wir im Strahl’ erloschner Sonnen,
In den Tagen lang verrauschter Wonnen,
Schon in Eins zerronnen?

Ja, wir waren’s – Innig mir verbunden
Warst du in Äonen, die verschwunden […]


Des Menschen Seele /Gleicht dem Wasser: /Vom Himmel kommt es, /Zum Himmel steigt es, /Und wieder nieder /Zur Erde muß es, /Ewig wechselnd.

Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832), Gesang der Geister über den Wassern, 1779

„§ 94. […] Warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?
§ 95. Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? Weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel? […]
§ 99. [Reinkarnation gebe es nicht,] weil ich es vergesse, daß ich schon dagewesen? Wohl mir, daß ich es vergesse! Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf jetzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?
§ 100. Oder, weil so viel Zeit für mich verloren gehen würde? Verloren? –
Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“

Schlußparagraphen der bekannten Kurzschrift von Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Erziehung des Menschengeschlechts (1780)

„Sollte die unsterbliche Seele wohl in der ganzen Unendlichkeit ihrer künftigen Dauer, die das Grab selbst nicht unterbindet, sondern nur verändert, an diesen Punkt des Weltraumes, an unsere Erde, jederzeit gehaftet bleiben? Sollte sie nie von den übrigen Wundern der Schöpfung eines näheren Anschauens teilhaftig werden? Wer weiß, ist es ihr nicht zugedacht, daß sie dereinst jene entfernten Kugeln des Weltgebäudes und die Trefflichkeit ihrer Anstalten, die schon von weitem ihre Neugierde so reizen, von nahem soll kennen lernen?“

Immanuel Kant (1724 – 1804): Allg. Naturgeschichte und Theorie des Himmels, 1755

„[…] eine transzendentale Hypothese: daß alles Leben eigentlich nur intellegibel sei, den Zeitveränderungen gar nicht unterworfen, und weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Tod geendigt werde. Daß dieses Leben nichts als eine bloße Erscheinung [sei …], daß, wenn wir die Sachen und uns selbst anschauen sollen, wie sie sind, wir uns in einer Welt geistiger Naturen sehen würden, mit welcher unsere einzig wahre Gemeinschaft weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Leibestod aufhören werde.“

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Transzendentale Methodenlehre, Erstes Hauptstück, 3. Abschnitt) 1781/87
Von Empedokles wird die Kunde überliefert, er sei von seinen Anhängern als Gott verehrt worden, weshalb er sich später als Sühne in den Ätna gestürzt habe. Diese Legende faszinierte Hölderlin so sehr, daß sie sogar zum Inhalt des einzigen Dramas wurde, das er schrieb: „Empedokles“ / „Der Tod des Empedokles“, eine Tragödie in fünf Akten, die Hölderlin in drei Anläufen auszuformulieren begann, jedoch nie ganz zu Ende führte.

Die intensive Auseinandersetzung mit Empedokles ist eine weitere wichtige Verbindung Hölderlins mit dem Gedanken der Reinkarnation. Dementsprechend lassen sich in den Empedokles-Texten mehrere Reinkarnationsaussagen und -andeutungen finden:

… Es scheun
Die Erdenkinder meist das Neu’ und Fremde,
Beschränkt im Eigentume sorgen sie,
Wie sie bestehn, und weiter reicht ihr Sinn
Im Leben nicht. Doch müssen sie zuletzt
Die Ängstigen heraus, und sterbend kehrt
Ins Element ein jedes, daß es da
Zu neuer Jugend, wie im Bade, sich
Erfrische.
(Empedokles, Erster Entwurf, 2. Akt, 1394ff.)

Und wie die Sterne geht unaufgehalten [nach dem Tod]
Das Leben im Vollendungsgange weiter.
(Erster Entwurf, 2. Akt, 1523f.)

– trauert nicht!
Denn heilig ist mein End’ und schon – o Luft,
die den Neugeborenen umfängt,
Wenn droben er die neuen Pfade wandelt …
(Erster Entwurf, 2. Akt, 1647ff.)

Als der Jüngling Pausanias das baldige „Vergehn“ des Empedokles beklagte, sprach dieser:

Vergehn? ist doch
Das Bleiben gleich dem Strome, den der Frost
Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält
Der heilge Lebensgeist denn irgendwo,
Daß du ihn binden möchtest, du, den Reinen?

Danach, im Monolog angesichts seines bevorstehenden Todes:

Sterben? nur ins Dunkel ists
Ein Schritt, und sehen möchte’st du doch, mein Auge!
Du hast mir ausgedient, dienstfertiges!
Es muß die Nacht jetzt eine Weile mir
Das Haupt umschatten.
(Erster Entwurf, 2. Akt, 1753ff., 1786ff.)

In der Epoche, in der Hölderlin lebte, in der Übergangszeit oder Überlappungszeit von Klassik und Romantik, erkannten viele junge Dichter intuitiv den weiten Lebenshorizont, den das Fenster der Reinkarnation eröffnet. „Feierliche, im Gefühl verschwebende, zum Mythos werdende Erinnerungen wurden, da es eine ausgesprochene Philosophie der Wiederverkörperung noch nicht eigentlich geben konnte, zum Quell einer duft- und farbenreichen Wiederverkörperungspoesie. Dem denkerischen Problem würde all die Unsicherheit dessen anhaften, was man einmal glaubt und einmal bezweifelt. Die schauende Ahnung ist bekleidet mit der Selbstverständlichkeit der schönen Wahrheit und der wahren Schönheit. … Hierher gehört vor allem das große Erwachen des inneren Griechenland in den Seelen so vieler großen Geister der damaligen Zeit. … Keine Seele wurde so elementar von der Erinnerung an die griechische Heimat ergriffen wie Friedrich Hölderlin.“ #fn:5

Hölderlin formulierte den Reinkarnationsgedanken nie konkret in einer Philosophie, aber dennoch ist dieser, wie bei vielen anderen damaligen Dichtern und Denkern, seine intuitive und natürliche Überzeugung. In Hölderlins Werken atmet die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, die er zu kennen wähnt und in denen er Bekanntes sucht:

… Hinüberzugehn und wiederzukehren.

So sprach ich, da entführte
Mich schneller, denn ich vermutet,
Und weit, wohin ich nimmer
Zu kommen gedacht, ein Genius mich
Vom eigenen Haus. Es dämmerten
Im Zwielicht, da ich ging,
Der schattige Wald
Und die sehnsüchtigen Bäche
Der Heimat; nimmer kannt’ ich die Länder;
Doch bald, in frischem Glanze,
Geheimnisvoll
Im goldenen Rauche, blühte
Schnellaufgewachsen,
Mit Schritten der Sonne,
Mit tausend Gipfeln duftend,

   Mir Asia auf, und geblendet sucht’
Ich eines, das ich kennete …
(aus: Patmos)


Hölderlins frühere Leben

In Hölderlins Werk klingen sehr oft, bewußt oder unbewußt, Erinnerungen an frühere Leben an, insbesondere an sein Leben in Griechenland (was auch seine tiefe Verbundenheit mit der hellenischen Antike erklärt).

Im Briefroman Hyperion läßt Hölderlin den Jüngling Hyperion und seine geliebte Diotima nach Athen reisen, und nur schon durch die Beschreibung wird Hölderlin von Déjà-vu-ähnlichen Eindrücken überwältigt:

„Es ist schön, daß es dem Menschen so schwer wird, sich vom Tode dessen, was er liebt, zu überzeugen, und es ist wohl keiner noch zu seines Freundes Grabe gegangen, ohne die leise Hoffnung, da dem Freunde wirklich zu begegnen. Mich ergriff das schöne Phantom des alten Athens, wie einer Mutter Gestalt, die aus dem Totenreiche zurückkehrt.

O Parthenon! rief ich, Stolz der Welt! … wie Kinder sind die andern Tempel um dich versammelt … und der Hain des Akademus
[Platons Schule]

Kannst du so dich in die alte Zeit versetzen, sagte Diotima.

Mahne mich nicht an die Zeit! erwidert’ ich, es war ein göttlich Leben …“
(aus: Hyperion I.2, letzter Brief)

„Ich schlummerte, mein Kallias! Und mein Schlummer war süß. Holde Dämmerung lag über meinem Geiste, wie über den Seelen in Platons Vorelysium. #fn:6 … In süßer Trunkenheit lag ich am Ufer unsers Archipelagus, und mein Auge weidete sich an ihm …“ (Aufsatz: „Ich schlummerte …“)

Rudolf Steiner (1861 – 1925), der Begründer der Anthroposophie, kam einst (1924) in einem Vortrag #fn:7 auf Hölderlins frühere Leben zu sprechen, wobei er diese Informationen kaum dem Werk des Dichters entnahm. Vielmehr berief sich Rudolf Steiner auf die universelle Akasha-Chronik, in der er, nach eigener Aussage, zu lesen vermochte. Gestützt auf diese Quelle, sagte Rudolf Steiner, Hölderlin sei in seinem Vorleben einst ein Schüler des Platon gewesen – ein unbekannter Schüler, der erst in seiner Wiedergeburt in Deutschland zu (spätem) Ruhm gelangte, als Friedrich Hölderlin.

Hölderlin fühlt sich in Deutschland tatsächlich als Fremder: „So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten – Wie anders ging es mir! … Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen …“ (aus: Hyperion, II.2, zweitletzter Brief an Bellarmin)

Es gibt einen Brief des dreiundzwanzigjährigen Hölderlin, in dem er andeutet, daß er sich unter den Schülern des Platon sehe. Er erinnert sich an die „Platanenhaine am Illisus, … wo ich unter Schülern Platons hingelagert, dem Fluge des Herrlichen nachsah, wie er die dunkeln Fernen der Urwelt durchstreift, oder schwindelnd ihm folgte in die Tiefe der Tiefen, … wohin die ausgeströmten Kräfte zurükkehren nach ihrem unermeßlichen Kreislauf …“ (Brief an Neuffer, 21. Juli 1793)

Immer wieder erinnert sich Hölderlin mit großer Ehrfurcht an Platon:

im Schatten der Platanen, …
Wo mein Plato Paradiese schuf …

(aus: Griechenland. An Gotthold Stäudlin)

Und wie um Platons Hallen,
Wenn durch der Haine Grün,
Begrüßt von Nachtigallen,
Der Stern der Liebe schien
(aus: Der Gott der Jugend)

Ihr brüderlichen Hallen, wo ich oft
Lichttrunken einst mit meinem Plato ging
Und immerneu uns Jünglingen das Jahr
Und jeder Tag erschien in heilger Schule.
(Empedokles, Dritter Entwurf, 292ff.)

Rudolf Steiner versuchte, Hölderlins Psyche zu analysieren, indem er auf eine versteckte Einseitigkeit in Platons Lehre hinwies: „Plato hob seine Schüler hinauf von der Betrachtung der vergänglichen äußeren sinnlichen Dinge zu den ewigen Ideen, die gewissermaßen als das Himmlische über dem Irdischen schwebten. Zu kurz kam bei dieser platonischen Betrachtung der Mensch selber. Denn im Menschen, in dem die Idee unmittelbar lebendig und gegenständlich wird, kann man die platonische Denkweise nicht recht anwenden: er ist zu individuell.“

Diese abstrakte Vergeistigung, die in Platons Akademie am Illisus gelehrt wurde, habe einen von Platons Schülern, eine „fein ziselierte Persönlichkeit“, zu einem „Himmelsflug“ erhoben, dem dieser „mit ganzer Inbrunst und Hingabe“ gefolgt sei. Dies habe bei jenem Schüler zu einem Zwiespalt geführt „zwischen dem Gemütsleben den lebendigen Menschen gegenüber und dem Aufschauen der Seele zu den ewigen Ideen im platonischen Sinne.“ Dieser Schüler „ging sozusagen an den lebenden Menschen mehr oder weniger vorbei, aber interessierte sich tief, unendlich tief für die Götter, die ehemals auf der Erde gelebt hatten nach seiner Anschauung und die man als die Stammeltern der jetzt lebenden Menschen betrachten mußte.“

Nach einigen Zwischenleben sei es, so Rudolf Steiner, soweit gekommen, daß diese Seele aufgrund mangelnder „vorirdischer Einsicht in den menschlichen Körper … unvollständig herunterstieg in den menschlichen Körper … Er kann nicht in seinen Körper vollständig hinein, wird nur in seiner Jugend hineingetrieben, wird dann bald hinausgetrieben und muß draußen bleiben: Hölderlin.

Die Perspektive der Reinkarnation enthüllt auch im scheinbar Sinnlosen, in Krankheit und Einsamkeit, den göttlichen Sinn:

„Krankheit und Gesundheit nehmen sich natürlich, wenn sie im schicksalsmäßigen Zusammenhang betrachtet werden, ganz anders aus, als sie sich ausnehmen, wenn man sie nur in den Grenzen des einen Erdenlebens betrachtet . … Eine solche Individualität wie Hölderlin, der, aus der Platonischen Schule hervorgehend, nicht in seinen Leib hinein kann, sich draußen halten muß, erlebt in der Dumpfheit seines Wahnsinns vorbereitende Impulse für kommende Erdenleben, die ihn zu Großem bestimmen.“

„Wahrhaftig, ich muß es immer wieder sagen: Nicht um ein Sensationsbedürfnis zu befriedigen, sondern um immer tiefer und tiefer hineinzuführen in die Erkenntnis des geistigen Lebens, werden [solche] Betrachtungen angestellt. Und nur durch dieses tiefere Hineindringen in das geistige Leben kann das äußere sinnliche Leben, das Leben der Menschen, erklärt werden.“

Soweit Rudolf Steiners richtungsweisende Betrachtungen.

Aus der Perspektive der Reinkarnation wird auch die Intensität der Beziehung von Friedrich Hölderlin und Susette Gontard verständlich. Als Hölderlin 1796 Susette Gontard-Borkenstein (1769 - 1802) traf, hatte er bereits zwei Verlobungen und andere Beziehungen hinter sich; an möglichen „Freundinnen“ hatte es ihm nicht gefehlt. Doch die Verbindung mit Susette, „Diotima“, war vollkommen anders. Beide erkannten sogleich ihre tiefe Seelenverwandtschaft, eine bewegende Bekanntschaft aus früheren Leben. Sie spürten, daß sie sich nicht zum ersten Mal (und auch nicht zum letzten Mal) begegneten:

„Wir mußten uns finden, und freuten uns oft innig darüber, sollten wir uns denn nicht wiederfinden, und wieder freuen können?“ (Susette Gontard an Hölderlin, 12. März 1799)

Unergründlich sich verwandt,
Hat sich, eh wir uns gesehen,
Unser Innerstes gekannt.
(aus: Diotima. Lange tot und tiefverschlossen …)

Diotima! edles Leben!
Schwester, heilig mir verwandt!
Eh’ ich dir die Hand gegeben,
Hab’ ich ferne dich gekannt.
(aus: Diotima. Leuchtest du wie vormals …)

„Ich werde sie wiederfinden in irgend einer Periode des ewigen Daseins. Gewiß! was sich verwandt ist, kann sich nicht ewig fliehen. … Die einst da waren und da sein werden? Wann kommt das große Wiedersehen der Geister? Denn einmal waren wir doch, wie ich glaube, alle beisammen.“ (aus dem Thalia-Fragment des Hyperion, 1. Brief)

„Da sagt’ es [mein Herz] mir, wie Hyperions Geist im Vorelysium mit seiner holden Diotima gespielt, eh’ er herabgekommen zur Erde, in göttlicher Kindheit … Und, wie die Vergangenheit, öffnete sich die Pforte der Zukunft in mir.

Da flogen wir, Diotima und ich, da wanderten wir, wie Schwalben, von einem Frühling der Welt zum andern, durch der Sonne weites Gebiet und drüber hinaus, zu den andern Inseln des Himmels, an des Sirius goldne Küsten, in die Geistertale des Arcturs –„
(aus: Hyperion, I.2, 17. Brief)

„Es ist unmöglich, und mein innerstes Leben empört sich, wenn ich denken will, als verlören wir uns. Ich würde Jahrtausende lang die Sterne durchwandern, in alle Formen mich kleiden, in alle Sprachen des Lebens, um dir Einmal wieder zu begegnen. Aber ich denke, was sich gleich ist, findet sich bald.“ (aus: Hyperion II.1, letzter Brief an Diotima)

„… verzweifeln werde ich nie an der Natur, auch wenn ich den Tod schon im Inneren fühlte, würde ich sagen, sie weckt mich wieder, sie gibt mir alle meine Gefühle wieder, die ich treu bewahrte und die mein sind, die nur der Druck des Schicksals mir nahm, aber sie siegt, sie bereitet aus Tod mir neues, schöneres Leben […] - - - Die Leidenschaft der höchsten Liebe findet wohl auf Erden ihre Befriedigung nie! - - - fühle es mit mir! diese suchen wäre Torheit. - - - Miteinander sterben! […] Wir können nicht unglücklich werden, weil diese Seele in uns lebt. Und ich weiß es, der Schmerz wird uns nur besser machen und uns inniger verbinden.“ (Susette Gontard an Hölderlin, Jahreswechsel 1798/99)

„Bestimmt nicht oft ein kleiner Zufall unser Glück oder Unglück? – Wir sind ja noch in der Welt dem Zufall unterworfen […] Wir mußten uns finden, und freuten uns oft innig darüber, sollten wir uns denn nicht wiederfinden, und wieder freuen können? - - - Ich kann das Wort Zufall, welches ich geschrieben, nicht wieder aus dem Kopf bringen, es gefüllt mir nicht, klingt so klein, und kalt, und doch finde ich kein anderes. Könnte man nicht auch sagen, die geheime Verkettung der Dinge bilden für uns etwas, das wir Zufall nennen, was doch aber notwendig ist. Wir können wegen unserer Kurzsichtigkeit davon gar nichts vorhersehen, und erstaunen, wenn es anders kommt, wie wir meinten. Doch gehen die ewigen Naturgesetze immer ihren Gang, sie sind uns unergründlich, und eben darum tröstlich.“ (Susette Gontard an Hölderlin, 12. März 1799)

„Wenn Du auch glaubtest, daß es gut ist, in der Wirklichkeit eine gänzliche Scheidung zwischen uns zu machen, ich will Dich nicht darum verkennen, die Unsichtbaren Beziehungen dauern doch fort und das Leben ist kurz.

[…] und unsere Seelen begegnen sich immer und ewig!“
(Susette Gontard an Hölderlin, August 1799)

Hölderlins und Diotimas Beziehung fand keinen Platz in der Welt, denn Diotima war bereits verheiratet und hatte vier Kinder. Sie lebten drei Jahre zusammen als „Hausherrin“ und Hauslehrer; drei Jahre nach der Trennung starb Diotima dreiunddreißigjährig, ähnlich wie Diotima im Roman Hyperion.

Durch diese schicksalsschwere Beziehung reifte Hölderlins Dichtung zu ihrer einzigartigen Tiefe:

… o Licht!
   Und wohl erkennt mein Auge dich, herrliches!
       Denn göttlich stille ehren lernt’ ich,
           Da Diotima den Sinn mir heilte.

O du des Himmels Botin! wie lauscht’ ich dir!
   Dir, Diotima! Liebe! wie sah von dir
       Zum goldnen Tage dieses Auge
           Glänzend und dankend empor. …
(aus: Geh unter, schöne Sonne …)
  1. In Herders Originaltext heißt es: „Was wir das Überleben unsrer selbst, also Tod, nennen, …“
  2. in: Hölderlin – Reden und Aufsätze von F. Beißner, „Palingenesie“. Weimar 1961
  3. Jochen Schmidt, in: Friedrich Hölderlin – Gedichte, S. 460. Frankfurt am Main 1984
  4. aufgeführt im Buch von Ronald Zürrer: Reinkarnation – Die umfassende Wissenschaft der Seelenwanderung, S. 184. Zürich (Govinda) 31994. Dies ist das verständlichste und vollständigste Buch über die Reinkarnationslehre und deren Einfluß in der indischen und europäischen Geistesgeschichte.
  5. E. Bock: Wiederholte Erdenleben, S. 77f., Stuttgart (Urachhaus) 61975
  6. In Platons Lehre der Seelenwanderung ist das Vorelysium jener Bereich der geistigen Welt, in der sich die Seelen befinden, bevor sie wieder in einem irdischen Körper geboren werden.
  7. Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Bd. 2, S. 76ff. (Vierter Vortrag, 26. April 1924), Dornach 61988

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