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armin-risi.ch · Triskele
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Armin Risi
Philosoph • Autor • Referent
Radikal umdenken – neue Wege und Weltbilder

Meine Rezension vom 31.10.2024 zum Buch von Christine Doris Schmidt:
Friedrich Hölderlin – Mein Ahne neu entdeckt: Nachfahrin präsentiert Überraschendes aus historischen Quellen
(veröffentlicht im März 2024)
⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

Klärung wichtiger offener Fragen zu Hölderlins Biographie

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Im Gegensatz zu den meist sehr intellektuellen Hölderlin-Abhandlungen lebt das Buch von Christine Doris Schmidt (christinedschmidt.eu) von ihrem persönlichen Bezug zu Friedrich Hölderlin und von der „leidenschaftlichen“ Wahrheitssuche. Sie begann, sich intensiv mit Hölderlin zu befassen, als sie erfuhr, dass sie über ihre Vorfahren mit Hölderlins Mutter verwandt ist. Ihre Ausführungen über die Frage, ob Hölderlin tatsächlich „wahnsinnig“ oder „geistig umnachtet“ war, sind auf dem neusten Stand der Forschung und ergeben ein sehr differenziertes Bild von Hölderlins Biographie und der Vorgeschichte, die im September 1806 zur gewaltsamen Einweisung in die damals neu gegründete psychiatrische Klinik von Tübingen führte. Die Autorin zeigt, dass es sich dabei um kein isoliertes Ereignis handelte und dass es durchaus Kreise gab, die ein Interesse hatten, Hölderlin auf diese Weise zu diffamieren und zum Schweigen zu bringen.

Der wichtigste biographische Beitrag der Autorin ist die Klärung des Falls „Wilhelmine Kirms“. Ende 1793 trat der 23-jährige Hölderlin seine erste Arbeitsstelle als Hauslehrer an: bei der adligen Familie von Heinrich und Charlotte von Kalb. Wie wir heute wissen, wurde gegen Ende 1794 die Hausangestellte Wilhelmine Kirms schwanger, und Charlotte von Kalb verbreitete heimlich das Gerücht, dass Hölderlin der Vater sei. Bis zum heutigen Tag wird dieses Gerücht in vielen Hölderlin-Biographien aufgegriffen. Die Autorin hat nun eine Quelle entdeckt, die in der Hölderlin-Forschung, soweit ich weiß, bisher nicht bekannt war. Mit dem entdeckten Schlüsselfakt rekonstruiert die Autorin auf detektivische Weise aus den Originalquellen die damaligen Ereignisse. Hölderlin wusste nichts von der schnell verheimlichten Schwangerschaft der Hausangestellten, weil er damals mit seinem Zögling Fritz von Kalb woanders weilte. Die neu entdeckte Spur zeigt, dass der Hausherr, Heinrich von Kalb, der Vater war. Seine Frau, Charlotte von Kalb, deckte die Situation, indem sie mit Wilhelmine nach Weimar reiste und sich dort in ihrer Wohnung versteckte, um das neugeborene Kind bei der Taufe dann als ihr eigenes auszugeben. Prominente Persönlichkeiten in Weimar unterstützten sie dabei. Kurz danach wurde das Kind als tot gemeldet, um Charlotte von Kalb von diesem fremden Kind wieder zu „befreien“, während Wilhelmine mit ihrem Kind heimlich ins Haus der Familie von Kalb zurückkehrte. (Ein Jahr später starb das Kind dann tatsächlich.)

Heinrich von Kalb hatte später mindestens drei weitere uneheliche Kinder, gezeugt mit der Schlossköchin. Diese Kinder ließen sich nicht mehr verheimlichen. (1806 beging Heinrich von Kalb aufgrund seines selbstverursachten finanziellen Ruins Suizid.)

Was die Autorin über die Hintergründe von Wilhelmine Kirms und der Familie von Heinrich von Kalb herausgefunden hat, ist fundiert und überzeugend. Es ist zu hoffen, dass die akademische Hölderlin-Forschung diese Entdeckung zur Kenntnis nimmt, ebenso wie die Richtigstellung zu einer anderen falschen Briefinterpretation
 – des Hölderlin-Biographen Pierre Bertaux – hinsichtlich einer „weiteren“ angeblichen Affäre Hölderlins. Erstaunlich ist auch der Nachweis der Autorin, dass namhafte Hölderlin-Biographen einige Worte Hölderlins in seinen Briefen missverstanden, d. h. nicht in ihrer damaligen Bedeutung verstanden, und dass sie spätere gesellschaftliche Verhältnisse auf Hölderlins Zeit bezogen und dadurch falsche Vermutungen anstellten.

Dank der Klärung dieser wichtigen offenen Fragen in Hölderlins Biographie können wir uns mit neuer Klarheit den inhaltlichen Aussagen von Hölderlins Dichtung zuwenden, denn es war seine große Hoffnung und Vision, dass er in seinem Zeitalter „die Keime wecke, die in einem künftigen reifen werden“.

Neues Buch von Armin Risi